Norderstedt. Linke in Norderstedt fürchten, dass bald viele Anwohner Kosten nicht mehr bezahlen können. Bereits jetzt hohe Zahl angedrohter Sperrungen.
„Da wird ganz schön was auf uns zukommen. Die Lage wird sich deutlich verschärfen“, sagt Norbert Pranzas. Der Stadtvertreter der Fraktion Die Linke ist überzeugt, dass die rasant steigenden Verbraucherpreise bei Strom, Gas und Öl auch in Norderstedt für die Zunahme eines mittlerweile europaweit beobachteten sozialen Problems sorgen werden: die Energiearmut.
Menschen, die am Monats- oder Quartalsende nicht ihre Strom- oder Gasabschläge bezahlen können, geschweige denn die Nebenkostenabrechnung am Ende des Verbrauchsjahres. Die schon hohe Außenstände bei Energieunternehmen haben und diese in Kleinraten abstottern. Spätestens 2023, wenn die explodierenden Energiepreise voll auf die Verbraucherinnen und und Verbraucher durchschlagen, wird die Gruppe dieser Menschen größer, glaubt Pranzas.
Strompreis Norderstedt: Linke schlägt Alarm – "Lage wird sich deutlich verschärfen“
In Deutschland gibt es keine klare Definition für Energiearmut. In der Wirtschaftswissenschaft ist ein Anhaltspunkt die 10-Prozent-Regel: Demnach gelten Haushalte als energiearm, wenn sie mehr als 10 Prozent des Einkommens für Energiekosten ausgeben müssen. Dies traf 2019 in Deutschland auf 17 Prozent der Haushalte zu, das sind ungefähr sechs Millionen Menschen.
Norbert Pranzas hat sich im Stadtwerkeausschuss an die Leitung der Norderstedter Stadtwerke gewandt. Er wollte die aktuelle Situation der Energiearmut in der Stadt mit Zahlen belegt haben. Ein Indikator für ihn ist dabei auch die Entwicklung der Zahlen bei den ausgesprochenen Strom- und Gassperren, der Ultima Ratio, wenn Energiekundinnen und -kunden nicht zahlen. Und die Entwicklung der Fälle, in denen die Sperre angedroht, aber dann doch noch abgewendet werden konnte.
Stromsperren: In Norderstedt jährlich im dreistelligen Bereich
Werkleiter Jens Seedorff lieferte jetzt im Ausschuss die Zahlen für die vergangenen drei Jahre. Die gute Nachricht: Säumigen Gaskunden wird in Norderstedt derzeit grundsätzlich nicht der Hahn abgedreht. Beim Strom sieht es allerdings anders aus. 2019 ging bei 285 Menschen das Licht aus, im Jahr darauf waren es 197 Haushalte, 2021 schließlich 212.
Viel höher sind die Zahlen bei den angedrohten, aber nicht vollzogenen Sperrungsandrohungen. Also Fälle, in denen die Stromkundinnen und -kunden bis zum letzten Moment die Rechnung unbezahlt ließen. 2019 war dies bei 2338 Norderstedterinnen und Norderstedtern der Fall, 2864 waren es 2020 und 2077 waren es 2021.
Die Linke Norderstedt: Politische Diskussion gefordert
„Die Zahlen deuten auf eine Entwicklung hin, die uns als Politik in dieser Stadt zum Handeln zwingt“, sagt Pranzas. Es müsse die Diskussion geführt werden, mit welcher Strategie der Stadtwerke und der zuständigen Stellen der Stadt Norderstedt es gelingt, zukünftig Energiesperren für die Betroffenen auch bei extrem ansteigenden Strom- und Gaspreisen zu vermeiden. Pranzas rechnet fest damit, dass aus angedrohten Sperrungen in naher Zukunft vollzogene Sperrungen werden. „Der Schritt zur Sperrung könnte schnell greifen, und sie bringt Menschen in ausweglose Situationen. Wir müssen schauen, dass nicht Teile der Gesellschaft abgehängt werden.“
In Anbetracht der kommenden Entwicklung fordert Pranzas die Stadtwerke auf, größtmögliche Kulanz bei Zahlungsverzug anzuwenden. „Da müssen alle Grauzonen und Spielräume genutzt werden, bevor man den Strom abstellt“, sagt Pranzas. „Man muss immer das persönliche Schicksal sehen, das hinter jeder Sperrung steht.“
Stadtwerke Norderstedt: Kulanz kann kaum gewährt werden
Stadtwerke-Sprecher Oliver Weiß sieht da ein Problem. „Wir sind ein städtischer Eigenbetrieb. Und das schließt Kulanz eigentlich aus.“ Denn: „Wo hört gut gemeinte Kulanz auf und wo fängt die Veruntreuung von städtischen Geldern an?“
Was die von Pranzas angesprochenen „Grauzonen und Spielräume“ angeht: Eine Sperrung komme jetzt schon nicht von heute auf morgen, sagt Weiß. „Wenn Kundinnen und Kunden Außenstände bei uns haben, kommt zunächst eine Mahnung. Und dann müssen die Leute mit uns reden.“ Wer seine Situation nicht erläutere und eine Lösung suche, dem könne geholfen werden – etwa mit Ratenzahlungen, die sich an den Zahlungsmöglichkeiten des Kunden in einem zeitlich vertretbaren Zeitraum orientieren.
Norderstedt: Es dauert Wochen, ehe der Strom abgeschaltet wird
„Ist bei den Außenständen ein gewisser Schwellenwert allerdings überschritten, erfolgt die Sperrungsandrohung. Danach hat man vier Wochen Zeit, seine Schulden auszugleichen. Danach erfolgt die Sperrankündigung – und dann hat man noch acht Tage Zeit“, sagt Weiß.
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Um Sperrungen und Zahlungsrückstände zu vermeiden, würden die Stadtwerke seit Wochen versuchen, die Kundinnen und Kunden mit Öffentlichkeitsarbeit für die Situation zu sensibilisieren. Der inhaltliche Schwerpunkt liege auf der Reduzierung der Energieverbräuche sowie der Anpassung der monatlichen Abschlagzahlungen. Für den Einsatz von Vorkassezählern würden in der Stromversorgung derzeit die softwaretechnischen Voraussetzungen geschaffen. Zum jetzigen Zeitpunkt sei laut Weiß nicht vorhersehbar, wie sich die zu erwartenden Zahlungsrückstände bei den Kundinnen und Kunden entwickeln werden.
Energiearmut: Forscherin untersuchte die Gründe
In Bedrängnis kämen in der jetzigen Energiekrise vor allem jene Haushalte, die bereits in Vorkrisen-Zeiten unter Energiearmut litten. Genau diese Haushalte hat Katharina Drescher erforscht, um herauszufinden, welche Faktoren Energiearmut befördern. Dazu hat die Nachwuchsökonomin am Lehrstuhl für Public Economics an der Universität Passau gemeinsam mit ihrem Kollegen Benedikt Janzen von der Universität Bern Daten des sozio-ökonomischen Panels von 2013 bis 2019 ausgewertet.
Überproportional von Energiearmut betroffen waren jene Gruppen, die allgemein ein erhöhtes Armutsrisiko tragen: Alleinerziehende, Arbeitslose und Personen mit niedrigem Bildungsniveau. Bei Energiearmut komme noch ein weiterer Faktor hinzu: Eine energieineffiziente Wohnung als auch die Nutzung von Elektro- und Ölheizungen erhöhen dem Forschungsteam zufolge das Risiko von Energiearmut betroffen zu sein.
Norderstedt: Politik muss verhindern, dass Haushalte verarmen
„Wer einmal in der Vergangenheit als energiearm eingestuft wurde, trägt ein erhöhtes Risiko, erneut in die Energiearmut abzurutschen“, fasst Ökonomin Drescher das Ergebnis ihrer Studie zusammen. Zwar schaffte es in Vorkrisenzeiten die überwiegende Mehrheit der Haushalte im beobachteten Zeitraum aus der Energiearmut. 14 Prozent der energiearmen Haushalte aber war dem Autoren-Team zufolge von chronischer Energiearmut betroffen.
„Die Politik sollte verhindern, dass Haushalte in die Situation der Energiearmut kommen“, rät Drescher. Selbst wenn die Maßnahmen kostspielig seien, lohne sich dies auf lange Sicht. Denn Energiearmut habe weitere, gesundheitliche Folgen: Studien zeigten, dass beispielsweise Kinder verstärkt unter Atemwegserkrankungen litten; ältere Menschen trügen ein erhöhtes Sterberisiko.