Kreis Segeberg. Der Kaltenkirchener Historiker Gerhard Braas hat die historischen Ereignisse des Jahres 1918 in der Region recherchiert.

Die Revolte begann im fernen Wilhelmshaven. Dann folgte der Aufstand der Matrosen in Kiel. Von dort breitete sich 1918 der Ruf nach Frieden und Brot in ganz Deutschland aus, bis der Erste Weltkrieg zu Ende ging und der Kaiser abdankte. Eine Revolution, die vor 100 Jahren auch im Kreis Segeberg ankam. Der Kaltenkirchener Gerhard Braas ist der Erste, der sich ausführlich und wissenschaftlich mit diesem geschichtlichen Ereignis in der Region beschäftigt hat.

Seine Forschungen zur Geschichte in seiner Heimat begannen vor zwei Jahren mit einem gebrochenen Fuß. Bewegen konnte sich der promovierte Historiker kaum. Sein iPad lag stets griffbereit, Braas tauchte in die Geschichte der Region ein. „Ich habe Quellen und Dokumente ohne Ende gefunden“, sagt Braas über seinen ausführlichen digitalen Ausflug in die Vergangenheit: „Da habe ich Blut geleckt.“ Forschungen in Archiven und die Lektüre der lokalen Tageszeitungen seit der Jahrhundertwende folgten. Daraus entstand eine ansehnliche Datenbank, aus der Braas seine Veröffentlichungen speist.

Gerhard Braas hat Dutzende Zeitungsjahrgänge durchgesehen.
Gerhard Braas hat Dutzende Zeitungsjahrgänge durchgesehen. © Wolfgang Klietz | Wolfgang Klietz

Zum Beispiel über die Revolution im November 1918, die heute weitgehend als historisches Ereignis in Kiel und Berlin wahrgenommen wird, aber nicht in der Provinz. „Darüber gibt es nur wenige Darstellungen“, sagt Braas. Seine Forschungen, die er demnächst in einer renommierten Fachzeitschrift veröffentlichen will, gehören dazu.

Der November 1918 war auch im Kreis Segeberg eine schwere Zeit. Deutschland konnte den Ersten Weltkrieg nicht mehr gewinnen. Hunger, Krankheiten wegen Mangelerscheinungen, die Ausbreitung der Spanischen Grippe und akuter Brennstoffmangel machten den Menschen das Leben schwer.

„Darüber hinaus waren die Menschen durch die militärische Niederlage und die auf den Straßen sichtbaren Auflösungserscheinungen zutiefst verunsichert“, sagt Braas. „Es gab zunehmendes Hamstern von Lebensmittel, eine ausufernde Kleinkriminalität und wochenlange öffentliche Alkoholexzesse von Einheimischen und Kriegsgefangenen, die sich nach dem Waffenstillstand weitgehend frei bewegen konnten.“ Tausende von Kriegsgefangenen arbeiteten auf Bauernhöfen oder waren in den beiden großen Lagerkomplexen in Bimöhlen und Kaltenkirchen-Springhirsch interniert. Der revolutionäre Funke aus Kiel zündete laut Braas zuerst bei den Wachmannschaften dieser beiden Lager, die einen Soldatenrat bildeten. Diesem Beispiel folgten wenig später Patienten und Pflegepersonal des Segeberger Lazaretts, das im Kurhaus untergebracht war.

Konzertandacht

„Frieden! 1918–2018. Was bleibt?“ So lautet das Thema einer Konzertandacht in der Michaeliskirche, Kirchenstraße, in Kaltenkirchen am Sonntag, 11. November. An diesem Tag endete vor 100 Jahren der Erste Weltkrieg.

Die Andacht beginnt um 18 Uhr. Auf dem Programm stehen Lesungen von Gedichten, freien Texten und Bibelworten sowie Chor- und Orchestermusik und Orgelklänge. Der Eintritt zur Andacht ist frei.

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Die revolutionären Ereignisse in Kiel und im Landkreis wurden in der regionalen Presse kritisch kommentiert. Das „Segeberger Kreis- und Tageblatt“, so hieß damals die „Segeberger Zeitung“, bewertete die „Kieler Ausschreitungen“ ablehnend als „bedauerliche Ereignisse“.

Rote Flaggen symbolisierten in vielen Orten die Revolution. Soldatenräte sorgten für Ruhe und Ordnung. In Kaltenkirchen schlichtete er zum Beispiel einen Streit im Gasthaus Holstenhof. Wo heute neben dem Rathaus Dat Backhus steht, hatten britische Kriegsgefangene versucht, einheimischen Männern die Tanzpartnerinnen auszuspannen.

Die neu gegründeten Räte sorgten für Ruhe und Ordnung

Auf die Soldatenräte folgten in kurzer Zeit in zwei Städten des Kreises Segeberg die Gründungen von „Arbeiterräten“. Die Mitglieder dieses völlig neuartigen Gremiums wurden im Segeberger Hotel Germania und im Kaisersaal in Bad Bramstedt gewählt.

Die Räte bestanden fast ausschließlich aus SPD-Mitgliedern. Dann folgte der nächste Schritt der regionalen Revolution: In Bad Segeberg vereinigten sich die Räte zu einem „Arbeiter- und Soldatenrat“ mit dem SPD-Mann Johannes Soltau an der Spitze. Damit hatten die Arbeiter und Soldaten eine mächtige Institution gegründet, die alle Fäden in der Hand hielt. Das Gremium veröffentlichte im „Segeberger Kreis- und Tageblatt“ einen „Aufruf an die Landbevölkerung“ und kontrollierte das Amt von Landrat Otto Ilsemann. Damit war die politische Macht in die Hände der Revolutionäre gefallen.

Revolution 1918

Die November-Revolution endete mit dem Sturz der Monarchie und der Umwandlung des Regierungssystems in eine parlamentarische Demokratie.

Kaiser Wilhelm II. dankte ab und ging in die Niederlande ins Exil, der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann rief von einem Balkon des Berliner Reichstagsgebäudes die Republik aus.

Damit begann die Weimarer Republik, die 1933 mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler unterging.

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Auch in den anderen Orten des Kreisgebiets konstituierten sich „Arbeiter- und Bauernräte“. Braas konnte die Gründungen in Kaltenkirchen und Fahrenkrug nachweisen und fand Hinweise auf reine „Bauernräte“ in Lentföhrden und Wakendorf II.

Zu den Umwälzungen jener Zeit gehörte auch die Einrichtung des Frauenwahlrechts in Deutschland, das in der norddeutschen Provinz zunächst nur zurückhaltend genutzt wurde. In Kaltenkirchen beteiligten sich gerade einmal zwölf Einwohnerinnen an der Gründungsversammlung eines Rates im Central-Gasthof, dem späteren überregional bekannten Bonanza-Club.

Im Kriegsgefangenenlager Springhirsch bildeten die Wachmannschaften des ersten Flensburger Landsturm-Infanterie-Bataillons einen Soldatenrat.
Im Kriegsgefangenenlager Springhirsch bildeten die Wachmannschaften des ersten Flensburger Landsturm-Infanterie-Bataillons einen Soldatenrat. © Sammlung Braas | Sammlung Braas

„Die Arbeiter- und Bauernräte auf dem Land, meistens bestehend aus vier bis sechs Männer, überwachten ihre Gemeindevertretungen und Ortsverwaltungen“, berichtet Braas. Dabei standen sie vor großen Herausforderungen. „Neben der Sicherung von Ruhe und Ordnung war ihre Hauptaufgabe der Kampf gegen den Hunger in Stadt und Land.“ Voraussetzung war, dass die bäuerlichen Betriebe reibungslos funktionieren und die benötigten Lebensmittel abgeliefert werden. Die Räte erzielten hierbei sichtbare Erfolge, stellte Braas bei seinen Recherchen fest. „Es konnten die Mehlrationen erhöht werden.“

„Die Rätebewegung in den großen Städten und auf dem Land hatte sich von Anfang an mehrheitlich als Übergangsregelung auf dem Weg zur Demokratie verstanden“, berichtet der Historiker. Die repräsentativen Wahlen mit hoher Beteiligung führten dann Anfang 1919 zu Niederlagen der SPD und zu bürgerlichen Mehrheiten. Braas: „Damit verloren die Arbeiter- und Bauernräte weitgehend ihren Einfluss. Viele ihrer Mitglieder zogen zudem in die kommunalen Parlamente ein, die nun anstelle der Räte die Gemeindeverwaltungen kontrollierten.“

Damit war auch im Kreis Segeberg das Ende der Rätebewegung besiegelt. In der Region gab es – anders als in Kiel – nicht die Alternative zwischen einem Rätesystem nach Sowjetvorbild und parlamentarischer Demokratie. „Auf dem Lande ging es für die Räte von Anfang an vor allem um die Bewältigung der dringenden Alltagsprobleme nach dem Kriegsende“, sagt Gerhard Braas. Sie leisteten dabei ihren Beitrag zur Entstehung der ersten deutschen Demokratie – Krisenbewältigung anstatt Umsturz im Kreis Segeberg.

„Leider haben 2018 die Städte und Gemeinden ihr 100. Demokratiejubiläum weitgehend verschlafen“, sagt Braas. Gedenkfeiern stehen in der Landeshauptstadt Kiel reihenweise auf dem Programm, aber leider nicht im Kreis Segeberg.