Norderstedt. Nach dem Arabischen Frühling musste Samah Alshaghdari ihre Heimat verlassen. Jetzt plant die Autorin in Norderstedt einen Neuanfang.

Es ist die letzte Redaktionssitzung des Jahres. Heft Nummer zwei ist fertig. Susanne Martin, Leiterin des Willkommen-Teams Norderstedt, ist erleichtert: „Jetzt gehen wir noch einmal alles durch, und dann ist wieder ein ordentlicher Brocken Arbeit geschafft.“ 30 bunte Magazinseiten liegen vor ihr, gestaltet von zwölf Redaktionsmitgliedern, allesamt Geflüchtete, die heute in Norderstedt leben. „Wir hier“ nennen die Neu-Norderstedter ihr Magazin und füllen es mit Geschichten aus vielen verschiedenen Nationen, verfasst überwiegend auf Deutsch, aber auch auf Arabisch, Dari oder Russisch.

Ein Beitrag fällt aus der Reihe. Ein Essay über die historische Bedeutung und Rolle der Frau im Jemen, verfasst von der Schriftstellerin und Aktivistin Samah Alshaghdari. Ein flammender Meinungsbeitrag und eigentlich zu lang für das Magazin. Susanne Martin hat ihn geteilt: Im aktuellen Heft erscheint der zweite Teil.

Was Samah Al Shaghdari zu sagen hat, passt meistens in keine Form. „Samah ist eine auffällige Person“, sagt Susanne Martin. „Sie hat einen scharfen Verstand und vertritt extrem hartnäckig ihre Ansichten. Vor allem, wenn sie sich falsch verstanden fühlt.“

Der frühe Tod des Vaters ist ein Schock

Für Verständnis kämpfen, das hat Samah Alshaghdari schon als kleines Kind gelernt. 1983 wird sie in Jemens Hauptstadt Sanaa geboren. Ein gesundes Kind. Doch dann häufen sich Erkältungen, sie leidet unter ständigen Kopf- und Gliederschmerzen. Nach drei Monaten die Diagnose: Kinderlähmung. Von nun an ist sie auf Gehhilfen angewiesen. In der konservativen jemenitischen Gesellschaft hat Samahs Familie ihre ganz eigenen Vorstellungen davon, wie die Zukunft der Tochter aussehen soll. Doch Samah hat einen anderen Plan für ihr Leben. Gegen den Willen ihres liberalen Vaters entscheidet sie sich für eine islamische Schule. „Er hat versucht, mich von meiner Entscheidung abzubringen. Aber obwohl er großen Einfluss auf mich hatte, ist er gescheitert“, sagt sie.

Als Samah aufs Gymnasium geht, stirbt der Vater, ganz plötzlich. Ein Schock für das junge Mädchen, so furchtbar, dass sie ein ganzes Jahr nicht zur Schule geht. Erst als die Mutter Samah mit einem Cousin verheiraten will, geht sie zurück in die Klasse, um so der aufgezwungenen Heirat zu entgehen. „Ich hatte Angst durchzufallen. Aber irgendwie habe ich es geschafft“, sagt sie.

Journalisten-Tandems schreiben über Flüchtlinge

Der Artikel über Samah Alshaghdari ist Bestandteil des Tandem-Projekts mit dem Titel „Wir sind Viele. Geschichten aus der Einwanderungsgesellschaft“ und wurde initiiert vom Projekt „Wir machen das“.

Erzählt werden die Geschichten in Form von Text- und Videobeiträgen, die von jeweils zwei Journalisten erarbeitet werden – einer stammt aus einem Krisengebiet und einer ist deutschsprachiger Journalist.

Das Tandem für diesen Text bildeten Ahmad Alrifaee aus Syrien und Georgina Fakunmoju aus Hamburg. Alrifaee widmete sich während der Revolution in Syrien seiner neuen Berufung als Videoreporter und Fotograf.

Durch Empfehlungen und nachdem seine Arbeiten von arabischen Fernsehsendern veröffentlicht worden waren, wurde die Nachrichtenagentur Reuters auf seine Arbeiten aufmerksam und beauftragte ihn als freien Mitarbeiter für die Bildberichterstattung.

In Deutschland arbeitet Alrifaee als Praktikant bei Tageszeitungen, an eigenen Kurzfilmen und an seinem Traum, Regisseur zu werden. Ahmad arbeitet im Zuge seines Bundesfreiwilligendienstes an der Hamburg Media School.

Georgina Fakunmoju studierte Europäische Medienwissenschaft in Potsdam und Journalismus in Monterrey, Mexiko. Sie machte Hospitationen beim Spiegel, dem ZDF, NDR und bei Radio Bremen und Bild. Sie arbeitet heute als Autorin für den NDR.

Weitere Informationen unter: www.wirmachendas.jetzt

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Dieser erste frühe Kampf um Selbstbestimmung setzt ungeahnte Kräfte in ihr frei. „Es war wie eine innere Revolution: Ich verließ die islamische Schule, warf meine Krücken weg, akzeptierte endlich den Gehapparat. Und ich ging meinen Interessen nach: Ich fing an, Gedichte zu schreiben und besuchte Lesungen von Dichtern und Intellektuellen.“ Bei der Wahl ihres Studienfachs kann sich Samah nicht durchsetzen, statt Medienwissenschaften muss sie Betriebswirtschaftslehre studieren. Ihre Leidenschaft bleibt die Lyrik. Sie schreibt Gedichte, sehr persönliche. Über ihren Alltag, die Liebe und Beziehungen. Obwohl sich die Familie für diese intimen Bekenntnisse schämt, macht sie weiter, veröffentlicht in verschiedenen Zeitungen und bringt ihren ersten eigenen Gedichtband heraus.

Doch es sind nicht nur Gefühle – Samah quälen die existenziellen Fragen. Sie studiert weiter, Philosophie. Doch im Jemen ist nicht die Zeit für Denker und Dichter: Die Islamisten verboten die Philosophie. Also liest Samah, was sie kriegen kann. So weitet sich ihr Stil – und ihre Sprache. Je mehr sie abrückt von der Beschreibung ihrer eigenen Erfahrung, umso direkter kann sie gesellschaftliche Probleme benennen.

Sie wagt mehr, schreibt über Religion, Feminismus, Gesellschaft und Politik. „Erstaunlicherweise war das kein Problem für meine Familie, weil ich indirekt schrieb, statt mich auf mich selbst zu beziehen“, erzählt sie und lächelt breit. So findet die Querdenkerin einen Weg, auf subtile Art Gesellschaftskritik zu betreiben, ohne anzuecken.

Mit Erfolg: Wenig später arbeitet sie für das jemenitische Fernsehen und produziert Dokumentationen. Bis im Februar 2011 der Arabische Frühling den Jemen erreicht.

„Jemen ist ein Land, in dem die Institutionen keine richtige Bedeutung haben. Der Präsident, Ali Abdullah Salih, regierte das Land mehr als 33 Jahre, er hatte alle Rechte, war der einzige Gott des Landes. Mein ganzes Leben lang war dieser Mann Jemens Präsident. Ich hätte damals sehr gern einen anderen Präsidentennamen gehört“, sagt Samah. Der neue politische Ungehorsam im Arabischen Frühling gibt ihr Aufwind. „Seit ich denken kann, bin ich eine Revolutionärin. Ich habe immer rebelliert: zuerst gegen mich selbst, dann gegen meine Eltern, die Familie, die Gesellschaft, die Tradition. Und ich habe für Frauen und ihre Rechte gekämpft. Für mich war es logisch, dass jetzt die Revolution gegen das Regime kommen musste.“

Das Autoren-Team Ahmad Alrifaee und Georgina Fakunmoju
Das Autoren-Team Ahmad Alrifaee und Georgina Fakunmoju © HA | Ahmad Alrifaee

Samah gründet mit anderen die Gruppe „Zusammen für die Veränderung“, organisiert Demos. „Die Revolution war für mich eine große Freude. Ich bin morgens vor der Arbeit demonstrieren gegangen, nach der Arbeit wieder und am Abend noch mal“, sagt Samah und ihre Augen strahlen. „Die Demos erfüllten mein Leben. Es ging um die Würde des Menschen, um Bildung, eine bessere Gesundheitsversorgung für alle. Frauen und Männer kämpften gemeinsam. Erst als die Revolution sich bewaffnete, wurden wir getrennt.“

Der Traum von Veränderung zerplatzt, die Revolution zerlegt sich selbst. Samah gründet die Produktionsfirma Kino Schall. Im Film „Jemenitinnen bilden die Veränderung“ begleitet sie Frauen, die im Herzen der Revolution, dem Taghier Platz, ihre Kämpfe nach außen tragen: die Ärztin, die Verletzte behandelt. Die Lehrerin, die mitten auf dem Platz einen Klassenraum eröffnet. Die Künstlerinnen, die ein offenes Atelier gründen. „Ich glaube daran, dass man mit Medien, Literatur und Kunst die Gesellschaft verändern kann“, sagt Samah. Ihre Filme zeigte sie öffentlich, denn auch Kinovorstellungen gab es im Jemen schon lange nicht mehr.

Was dann folgt, ist für Samah dunkle und traurige Erinnerung. Nach dem Militäreinsatz von Saudi-Arabien gegen die Huthi-Miliz verschlimmert sich die Situation im Jemen dramatisch. Saudische Flugzeuge bombardieren und zerstören die Städte, während am Boden die Huthi-Miliz Menschen verhaftet und tötet. Eine Mitarbeiterin von Samahs Produktionsfirma sei getötet worden, sagt sie. Der Fotograf festgenommen. Als ihr Haus belagert und sie selbst bedroht wird, entschließt sie sich zur Flucht.

Die 34-Jährige würde gern Regie studieren

Samah geht nach Berlin, kommt eine Weile bei Freunden unter, beantragt Asyl. Noch am selben Tag bringen die Beamten sie in eine Unterkunft in Neumünster „Ich durfte nicht mal meine Medikamente und Sachen abholen, ich hatte Angst vor den Beamten. Es war menschenunwürdig“, sagt Samah. Das Leben im Camp in Neumünster wird zur schlimmsten Zeit ihres Lebens. „Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, ich hätte alles verloren, es sei zu Ende. In vier Monaten war ich sechsmal im Krankenhaus, beim letzten Aufenthalt konnte ich eine Woche lang nicht sprechen. Ich dachte, ich würde nie wieder etwas sagen können. Aber auch diesen Schock habe ich überwunden.“

Heute hat Samah ihre Sprache wiedergefunden. Seit etwa einem Jahr lebt sie in Norderstedt. Sie hat eine Wohnung, die Leute kennen sie. Aber die Fremde nagt an ihr. „Mein Leben war immer voller Schwierigkeiten, aber hier sind sie am härtesten. Ich fühle mich behindert. Ich glaube, der Tod ist leichter, als im Exil zu leben. Das bei Null anfangen, ist noch nicht mal das Schlimmste, aber Heimat, Familie und Gedächtnis zu verlieren“, sagt sie und ihr kleiner Körper sinkt noch mehr in sich zusammen. „Jedes Mal, wenn ich in meine Wohnung komme, versuche ich, mich an den Geruch meines Zuhauses im Jemen zu erinnern. Die echte Samah ist noch im Jemen. Aber ich versuche, sie herzuholen“

Für das Norderstedter „Wir hier“- Magazin zu schreiben, ist eine Chance – und entfacht neue Hoffnung. „Das ist mein erster Schritt in der neuen Heimat“, sagt sie, und plötzlich ist es wieder da, dieses entwaffnende Lächeln. „Ich bin sehr motiviert und habe viele Ideen.“ Im März plant Susanne Martin bereits die nächste Ausgabe. Samah will endlich wieder Gedichte schreiben. Aber auch Regie studieren und ihre Produktionsfirma Kino Schall in Deutschland neu aufbauen. Auf jeden Fall weiter die Geschichten starker Frauen erzählen. Und vielleicht sogar in eine Partei eintreten.