Bad Segeberg. Was wäre Karl-May-Fans alles entgangen, wenn sich 1978 und 1979 die Segeberger Sozialdemokraten durchgesetzt hätten?

Eigentlich ist es nur eine Frage der Zeit: Irgendwann wird auch die nächste „magische Marke“ erreicht sein. 400.000 Besucher bei den Karl-May-Spielen in Bad Segeberg – warum nicht? Schon in diesem Jahr könnte es soweit sein. Seit 2013 hat es eine stetige Steigerung der verkauften Eintrittskarten gegeben. 2017 kamen 372.646 Besucher. Die Produktionskosten sind üppig, die Gewinne aber auch. Nur wenige Theater in Deutschland kommen ohne staatliche Subventionen aus, noch weniger Theater erwirtschaften einen Gewinn. Bad Segeberg ist also das Paradies der deutschen Theaterlandschaft. Aber das war nicht immer so. Was heute kaum noch jemand weiß (oder wissen will): Vor 40 Jahren sollten die Karl-May-Spiele eingestampft werden – wegen anhaltender Erfolglosigkeit.

Was wäre den Karl-May-Fans alles entgangen, wenn die Segeberger Sozialdemokraten sich 1978 und 1979 durchgesetzt hätten? Viele TV-Lieblinge wären nicht im Traum darauf gekommen, in die schleswig-holsteinische Provinz zu reisen. Allenfalls wäre das benachbarte Wahlstedt mit seinem Theater Durchreiseziel geblieben. Aber niemals Bad Segeberg.

1978 kamen nur 100.000 Besucher

Gehen wir zurück in das Jahr 1978. Mit sagenhaften 491.000 Mark sind die Karl-May-Spiele in das rote Loch gefallen. So einen Verlust hatte es bisher noch nie gegeben. Obwohl in jenem Jahr gleich zwei Stücke gespielt werden („Durchs wilde Kurdistan“ und „Winnetou“ mit einem Kinderensemble), kommen nur 100.000 Besucher. Nachdem auch 1979 mit 374.000 Mark minus ein satter Verlust eingefahren wird, platzt der SPD-Fraktion der Kragen: Die Stadt Bad Segeberg sollte einen derartigen Verlust nicht tragen, meinen die Sozialdemokraten. Sie wollen nach 27 Jahren die Auflösung der Karl-May-Spiele und fordern ein anderes Konzept für die Kalkberg-Arena, die damals offiziell noch Freilichttheater am Kalkberg heißt: Statt Indianer- und Wüstenspiele von Karl May sollen dort künftig mehr und ausschließlich Großkonzerte veranstaltet werden.

Das macht nicht nur aus Sicht der SPD Sinn. Denn seit Jahren schon hatte sich das Theater als Konzertarena etabliert. Vor allem aber: Das Risiko tragen die jeweiligen Veranstalter, nicht aber die Stadt Bad Segeberg, die nur die Miete kassiert. In der damals noch zaghaft aufkeimenden Stadionkonzert-Euphorie soll Bad Segeberg ganz vorne mitmischen.

Latwesen ist der „Retter der Karl-May-Spiele“

Es kommt aber anders. Am 13. November 1979 beschließt die Stadtvertretung Bad Segeberg, die Fortführung der Karl-May-Spiele der Kalkberg GmbH Bad Segeberg zu übertragen. Und Konzerte soll es auch weiterhin geben.

Wie man inzwischen weiß, klappt das Wechselspiel zwischen Musik und Theater hervorragend. Bis zum Beginn der Karl-May-Proben um den 20. Mai herum wird in der Arena gerockt, dann gehen die Indianer auf den Kriegspfad. Danach gibt es keine Musik mehr, weil dann die Fledermäuse auf den Plan treten und ihr Winterquartier ansteuern. Selbst für Jennifer Lopez, die vor Jahren im September auftreten sollte, wird keine Ausnahme gemacht.

Klaus Hagen Latwesen – der „Retter der Karl-May-Spiele“ – ist auch mit seinen 74 Jahren immer noch topfit
Klaus Hagen Latwesen – der „Retter der Karl-May-Spiele“ – ist auch mit seinen 74 Jahren immer noch topfit © LNBILD | OLIVER VOGT

Als „Retter der Karl-May-Spiele“ tritt Ende der 1970er-Jahre ein Mann auf den Plan, der schon Erfahrungen am Kalkberg gesammelt hatte: Als Winnetou-Darsteller ist Klaus-Hagen Latwesen ein in Fachkreisen bekannter Mann. Er übernimmt den ganzen „Laden“ und fungiert jetzt als Intendant, Autor, Regisseur und Hauptdarsteller. Und er macht, endlich von der Leine anderer Regisseure losgelassen, ganz großes Kino am Kalkberg: Statt Sprechtheater gibt es in den nächsten Jahren viel Show mit Stunteffekten. „Ich habe die Karl-May-Spiele in die Neuzeit geführt“, sagt Klaus-Hagen Latwesen, der mit seinen 74 Jahren heute immer noch topfit ist. Die Zuschauer kommen wieder: 1986 zum Beispiel strömen 164.000 Menschen in die Arena – bei nur 47 Vorstellungen (heute sind es 72).

1988 muss Latwesen dem renommierten Film-Winnetou Pierre Brice weichen. Doch das ist eine andere Geschichte. Den Groll von damals hat Klaus-Hagen Latwesen bis heute nie ganz überwunden. Er fühlt sich als „persona non grata“ und kommt in der offiziellen Geschichtsschreibung der Segeberger Karl-May-Spiele, wenn überhaupt, nur ganz am Rande vor.

So gut das Segeberger Ergebnis in den vergangenen Jahren auch war, der „wahre Rekord“ wird 1991 in der Abschiedssaison von Pierre Brice erreicht: 317.000 zahlende Gäste werden gezählt – in nur 57 Vorstellungen. Das ergibt einen Schnitt von 5561 Besucher je Vorstellung. Hochgerechnet auf 72 Vorstellungen ergäbe sich die Zahl von 400.000 Besuchern.

Erfolgreichstes Open-Air-Theater Deutschlands

Möglicherweise kann in diesem Jahr ein ähnliches Ergebnis erreicht werden. Wie auch immer: So viele Besucher wie nie zuvor konnten im vergangenen Jahr bei den Karl-May-Spielen begrüßt werden: 372.000. Damit hat Bad Segeberg das erfolgreichste Open-Air-Theater Deutschlands, haben Gutachter bescheinigt.

Die Kalkberg GmbH, zu der 53 Gesellschafter gehören, bewirtschaftet einen florierenden Betrieb. Rund 4,8 Millionen Euro betragen die aktuellen Produktionskosten, die wiederum eingespielt sind, wenn mindestens 200.000 Besucher kommen. Rund 550.000 Euro kosten Technik, Kostüme und Bühnenbild, etwa ebenso hoch fallen nach inoffiziellen Angaben die Schauspielergagen aus. Öffentlich wird darüber jedoch Stillschweigen gewahrt.

In den vergangenen Jahren konnte jeweils eine Million Euro an die Stadt Bad Segeberg überwiesen werden. Diese stetig sprudelnde Einnahmequelle lässt den Segeberger Haushalt besser aussehen.

Im vergangenen Jahr hat die Kalkberg GmbH ein 2300 Quadratmeter großes Grundstück im Gewerbegebiet erworben, um Lagerkapazitäten zu schaffen. Auf einer Nutzfläche von 600 Quadratmetern besteht Platz für Requisiten, Teile des Bühnenbildes und Ausstellungsstücke. Bisher waren all diese Dinge dezentral in der Stadt untergebracht. Es läuft also rund bei Karl May, wobei sicher auch die neue Form des Ticketverkaufs per Internet zum enormen Erfolg der Indianer-Spiele beigetragen haben.

Das aktuelle Stück „Winnetou und das Geheimnis der Felsenburg“ wird noch bis einschließlich Sonntag, 2. September, in Bad Segeberg gespielt. Alle Infos über Termine und Preise auf www.karl-may-spiele.de