Viele Ereignisse sind im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten. Das Hamburger Abendblatt hat sich auf Spurensuche begeben.
In der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem werden mit dem Titel „Gerechter unter den Völkern“ Frauen und Männer geehrt, die mit persönlichem Einsatz und unter Gefährdung des eigenen Lebens, oft auch dem ihrer Familien, versuchten, verfolgte Juden zu retten. Von den 26.973 dort aufgenommenen „Gerechten“ stammen aktuell nur 601 aus Deutschland. Einer von ihnen hat in Kaltenkirchen gelebt und gearbeitet: Hans Stockmar, 1890 im australischen Sidney geboren (der Vater war Schiffsarzt), 1961 in Kaltenkirchen verstorben. Er gehört zu jenen, die nicht bereit waren, die eskalierenden antijüdischen Maßnahmen einfach hinzunehmen. Der Fabrikant bewies Zivilcourage, machte aber selbst kein Aufhebens um seine Aktionen. Erst 35 Jahre nach dem Tod wurde sein Wirken bekannt. Es ist eine Geschichte über Zivilcourage und eine tiefe Freundschaft, der die Staatsraison und das nationalsozialistische Gedankengut nichts anhaben konnten.
Carol Stockmar aus Oering kann sich noch gut an seinen Großvater, den Fabrikanten aus Kaltenkirchen, erinnern. „Ich war sein Lieblingsenkel, habe aber meine Kindheit in Hamburg verbracht“, sagt der Seniorchef der Firma Stockmar, die in Kaltenkirchen seit Jahrzehnten Qualitätsprodukte für Kunst und Kunsterziehung herstellt. „Aber meine Großeltern habe ich sehr oft besucht.“ Carol Stockmar, der die Geschäfte des von seinem Großvater 1922 gegründeten Unternehmens an der Borsigstraße 40 Jahre lange führte, freut sich, dass die Geschichte von Hans Stockmar vom Abendblatt noch einmal aufgegriffen und einer breiten Leserschaft zugänglich gemacht wird. Er stellte auch die Fotos aus seinem Privatbesitz zur Verfügung. An seinen Großvater erinnert er sich als einen sehr großzügigen Menschen.
Hans Stockmar hat Existenz und Leben riskiert
Hans Stockmar hat es geschafft, mit seinen begrenzten Mitteln eine zentrale Position des Dritten Reiches zu unterwandern: die Vernichtungspolitik gegen die Juden. Damit hat er seine Existenz und vielleicht sein Leben riskiert.
In der von ihm gegründeten Firma, die Anfang der 30er-Jahre etwa 20 Mitarbeiter hatte, befindet sich auch Josef Gelbart, der 1913 mit seinen jüdischen Eltern aus Polen nach Deutschland eingewandert war. Er und seine Familie gehören also zu den verhassten „Ostjuden“. Der junge Josef beginnt nach dem Abitur als Lehrling und Imker-Volontär in der Firma Stockmar, wo sich trotz des Altersunterschiedes eine enge persönliche Verbindung zwischen dem Firmenchef und „Jupp“ Gelbart entwickelt.
Die Politik der Juden-Eliminierung strebt zu diesem Zeitpunkt einem Höhepunkt entgegen. Polen droht den „Ostjuden“ den Entzug der polnischen Staatsbürgerschaft an, Deutschland verweigert ihnen den Aufenthalt im Reich und treibt sie brutal über die polnische Grenze. Auch Josef Gelbart und seine Mutter gehören zu diesen Menschen.
Zunächst läuft alles noch einigermaßen glatt: Josef übernimmt in der Nähe von Warschau eine kleine Imkerei und Wachszieherei. Aber nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 ändert sich ihr Leben radikal. Sie werden in das Warschauer Ghetto deportiert, wo Gelbart nach wie vor Kontakt zu Hans Stockmar in Kaltenkirchen hält. Der Kampf ums Überleben beginnt. Beide schreiben sich Briefe. Insgesamt sind es zwölf, die Gelbart verschickt. Und in denen er seine Situation und Lebensumstände beschreibt. Bis heute ist es unverständlich, dass die Briefe und offenen Postkarten den Adressaten Hans Stockmar nicht ins KZ gebracht haben.
Stockmar antwortet mit Briefen und Päckchen, in denen er Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände verschickt, die Josef Gelbart und seiner Mutter eine Zeit lang das Überleben sichern. „Im übrigen ist es gleichgültig, was sie schicken“, steht in einem der Briefe Gelbarts an Stockmar. „Nur ziehen Sie Ihre Hand in diesen dunklen Stunden nicht zurück und verzeihen Sie, dass ich Ihnen so viele Umstände bereite. Aber ohne Brot und Butter bringe ich meine Mutter nie durch.“ Stockmar, der väterliche Freund, schickt und Gelbart listet die letzten vier Sendungen auf: Jacke, Weste, Strümpfe, Batterie für das Hörgerät, Flocken, Honig, Pullover, Bohnen, Zahnpasta, Seife, Nivea, Gries, Spaghetti, Kekse, Kerzen.
Warum wurden Stockmars Pakete im Ghetto zugestellt?
Für den 2015 verstorbenen Historiker Gerhard Hoch aus Alveslohe, der sich besonders durch die Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein ausgezeichnet hat, war es nur schwer vorstellbar, wie es Stockmar gelungen ist, über so lange Zeit Pakete und Briefe an eine jüdische Adresse im Wahrschauer Ghetto zu schicken, ohne jemals mit den Kontrollinstanzen des Dritten Reiches in Konflikt zu kommen. Gerade in Kaltenkirchen, einer Hochburg des Nationalsozialismus.
Erstaunlich auch, dass die Pakete im Warschauer Ghetto ausgetragen und zugestellt werden. Die Hilfe, die Hans Stockmar Josef Gelbart zuteil werden lässt, widerspricht dem vom Naziregime erlassenen Verbot, mit Juden zu sympathisieren.
Am 1. Februar 1942 schreibt Gelbart an Stockmar: „Alles ist krank und zermürbt, es gibt kein Wasser, da alles eingefroren ist, keinen Ausguss und überall häuft sich der Schmutz. Ach, es ist alles ohne Ufer...“ Das Ufer erreichen Mutter und Sohn tatsächlich nicht. 1942 verliert sich die Spur der beiden; die letzte Karte trägt das Datum 20. Mai 1942. Vermutlich sind sie im Vernichtungslager Treblinka ums Leben gekommen. Der Vater, der nicht nach Polen deportiert worden war, stirbt 1940 im KZ Sachsenhausen, der Bruder gelangt über ein Auslieferungslager nach Palästina.
Ob sich Hans Stockmar selbst über die Tragweite und Besonderheit seiner Handlungen im Klaren war, ist nicht bekannt. Offenbar hat er mit niemandem darüber gesprochen. Erst 1996, 35 Jahre nach seinem Tod, wird der Briefwechsel zwischen ihm und Gelbart bekannt. Dafür sorgt seine Enkelin Angela Stöckle aus Bad Boll in Baden Württemberg, die diese Briefe von ihrer Mutter kurz vor deren Tod erhalten hatte. Die wiederum wendet sich an den inzwischen verstorbenen Gymnasial-Geschichtslehrer Konrad Plieninger aus Göppingen, der sofort die Tragweite dieser Schriften erkennt. Für ihn ist klar, dass Vergleichbares bisher nicht bekannt geworden war. In der Schriftenreihe Jüdisches Museum Göppingen gibt er die Broschüre „Ach, es ist alles ohne Ufer... Briefe aus dem Warschauer Ghetto“ heraus.
Gelbarts Briefe geben einen Eindruck vom Leben im Ghetto
In diesem Heft sind die Briefe auszugsweise abgedruckt und historisch sowie biografisch eingeordnet. Sie geben einen unmittelbaren Eindruck in das Ghetto-Leben am Rande des Todes. „Gelbarts sensibler Sprachkunst verdanken wir bedrängende Bilder jüdischen Leidens“, urteilt Plieninger. Und er schreibt von „der helfenden Kraft des menschlichen Dialogs – selbst im Angesicht des Todes.“ Die Briefe Stockmars an Gelbart bleiben hingegen verschollen. Josefs Bruder Bernhard, dem Angela Stöckle 1999 in Haifa die Briefe seines Bruders aushändigt, stellt bei der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem den Antrag, den Helfer und Mentor seines Bruders mit dem Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ posthum auszuzeichnen.
Kaltenkirchen verschweigt Stockmars Ehrung
Am 22. Oktober 2001 wird diesem Antrag stattgegeben. Bernhard ist zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben. Am 9. September 2002 werden im Jüdischen Museum Göppingen-Jebenhausen in einem feierlichen Rahmen Urkunde und Medaille – die höchste Auszeichnung, die der Staat Israel verleiht – an Angela Stöckle stellvertretend für die Familie übergeben. Anwesend sind acht Enkel, drei Urenkel und ein Ururenkel. „Wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit gleichsam eine ganze Welt gerettet“ – diese Talmud-Worte stehen auf der Medaille.
Die Stadt Kaltenkirchen erinnert ebenfalls an Hans Stockmar: Seit 2001 gibt es am äußersten südlichen Zipfel des Industriegebiets eine Sackgasse, die seinen Namen trägt. Ein Erklärungszusatz unter dem Straßennamen weist jedoch lediglich auf den Gründer der Wachsschmelze, also seines Unternehmens, im Jahre 1922 hin.