Norderstedt. Immer mehr junge Menschen im Norden leiden unter Depressionen und Einsamkeit. In der Norderstedter Einrichtung finden sie Hilfe.

Er war antriebslos, kam kaum mehr aus dem Bett, sah schwarz für sich und seine Zukunft. „Eine mittelschwere depressive Episode“, sagt Psychologin Alexandra Mohr. Der Abiturient hatte zwar seinen Abschluss in der Tasche, aber keine Ahnung, was er nun mit sich und seinem Leben anfangen sollte. Während aus seiner Sicht alle anderen Mitschüler die tollsten Ausbildungen und Studiengänge klar gemacht hatten. Hausgemachter Leistungsdruck, der dazu führt, dass ein junger Mensch versagt, ehe er überhaupt etwas angepackt hat.

Depressionen, Angst, Essstörungen, Suchtmittelmissbrauch, Perspektivlosigkeit oder Entwicklungsstörungen – Alexandra Mohr kennt die Seelenqual gut, unter der junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren leiden. Die Psychologin ist die therapeutische Leiterin eines in Schleswig-Holstein einzigartigen Asyls für Menschen, die mit dem Start ins selbstbestimmte Leben hadern. In der Tagesklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Norderstedt werden junge Erwachsene teilstationär über acht bis zwölf Wochen und täglich von 8 bis 16 Uhr therapiert. Abends und am Wochenende aber müssen sie wieder raus ins echte Leben.

Und das ist für eine zunehmende Zahl junger Erwachsener in Schleswig-Holstein ein Problem, was durch die Zahlen einer aktuelle Studie der Barmer-Gesundheitskasse auf Basis des Ärztereports 2018 belegt wird. Danach leidet mehr als jeder vierte Schleswig-Holsteiner zwischen 18 und 25 Jahren unter einer psychischen Erkrankung.

Ausgewertet wurden für die Studie die Zahlen aus 2016. Danach wurden 27,6 Prozent der 18- bis 25-Jährigen wegen einer psychischen Störung ärztlich behandelt – das entspricht etwa 70.000 Betroffenen. Depressionen wurden bei 8,7 Prozent der Betroffenen diagnostiziert. Die Diagnoserate ist innerhalb von zehn Jahren um 70 Prozent gestiegen. Somatoforme Störungen, also körperliche Beschwerden, für die keine organische Ursache gefunden wird, sind mit einer Betroffenenrate von sechs Prozent die zweithäufigste psychische Störung bei den jungen Erwachsenen. „Die hohe Zahl junger Erwachsener mit psychischen Erkrankungen zeigt, dass wir verstärkt auf Prävention setzen müssen. Auch ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer der Betroffenheit weitaus höher ist. Denn nicht jeder junge Mensch mit psychischen Problemen sucht ärztliche Hilfe“, sagt Bernd Hillebrandt, Landesgeschäftsführer der Barmer. Vielmehr gehen Experten davon aus, dass etwa 57 Prozent der psychisch Erkrankten keinen Arzt aufsuchen und lieber versuchen, ihre Probleme im Gespräch mit Freunden oder Verwandten in den Griff zu bekommen. Bis zu einer ärztlichen Behandlung vergehen dann im Schnitt zwischen acht und zehn Jahre. Wertvolle Therapiejahre, die das Verfestigen psychischer Erkrankungen verhindern hätten können.

Patienten leiden unter Einsamkeit oder Ausgrenzung

Mit den ständig ausgebuchten 15 Therapieplätzen für junge Erwachsene in Norderstedt verfolgt die Tagesklinik genau diesen Ansatz. Die bis zu zehn Wochen in dem modernen und Licht durchfluteten Neubau der Tagesklinik, die 2015 an der Straße Beim Umspannwerk 6–8 in Friedrichsgabe eröffnet wurde, verbringen die Patienten mit einem therapeutischen Alltag, der gleichsam die Selbsterkenntnis und die Lebenstauglichkeit fördert. „Die jungen Erwachsenen haben Mobbing erlebt, haben soziale Phobien und kaum persönliche Kontakte, leiden unter Einsamkeit oder Ausgrenzung und verstärkten dass noch, in dem sie ihre Zeit nur vor dem Computer verbrachten“, sagt Alexandra Mohr. In Einzelsitzungen und Gruppengesprächen, aber auch beim gemeinsamen Kochen, Musizieren, beim Sport oder gestalterischen Angeboten sollen sie das Gefühl der Fremdbestimmtheit ablegen und sich klar werden über ihre Persönlichkeit und Wünsche. Das Selbstbewusstsein wird gestärkt. Und es gibt den alltagspraktischen Teil der Therapie, in dem die Patienten lernen, sich zu bewerben und ihren Fähigkeiten entsprechend die ersten Schritte im selbstbestimmten Leben zu gehen. „Die jungen Erwachsenen müssen sich bei uns öffnen. Viele haben Probleme, die eigenen Gefühle zu erkennen und zu leben“, sagt Mohr. „Wenn wir sie dann ins Wochenende oder am Ende der Therapie ganz verabschieden, fließen oft die Tränen. Viele Patienten helfen sich dann gegenseitig.“

Die Wartelisten für die Therapieplätze in der Tagesklinik sind lang. „Aber wir schaffen es, dass in der Regel niemand länger als vier Wochen auf einen Platz warten muss“, sagt Clemens Heise, ärztlicher Leiter der Klinik. „Eine sehr gute Quote für eine Einrichtung wie die unsere.“ Behandelt werden in der Klinik in der Hauptsache Erwachsene in Lebenskrisen. „Scheidung, Jobverlust und andere Schicksalsschläge“, sagt Heise. Die Klinik startete 2015 mit 20 Plätze, jetzt sind es insgesamt 45 – mehr als das Doppelte. Geplant ist mittelfristig der Ausbau auf 60 Plätze, außerdem will die Klinik eine Ambulanz für Migranten eröffnen.

Althergebrachte Vorurteile sollen zerstreut werden

Heise bestätigt die Zahlen zu den jungen Erwachsenen aus der Barmer-Studie. „Wobei man dazu immer wissen muss, dass es heute gesellschaftlich besser akzeptiert ist, sich überhaupt psychiatrische Hilfe zu holen und sich deswegen einfach mehr Leute als früher melden.“ Die Tagesklinik habe sich die Anti-Stigmatisierung der Psychotherapie zur Aufgabe gemacht. Althergebrachte Vorurteile sollen zerstreut werden. „Es geht bei uns nicht darum, die Menschen medikamentös einzustellen, wie es immer noch viele annehmen“, sagt Heise. Medikamente, die sprichwörtlichen „Happy Pills“, werden je nach Fall zwar eingesetzt. „Aber die Menschen hier müssen nicht eingestellt – sie müssen eine Einstellung zu sich und ihren Problemen entwickeln.