Boostedt. In der Erstaufnahmeeinrichtung in Boostedt gestaltet seit Anfang des Jahres ein junges Kollegium eine Schule für Geflüchtete.

Es sind ungewöhnliche Bedingungen, unter denen an der Außenstelle von der Grund- und Gemeinschaftsschule Boostedt gelernt wird. In der Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge kommen etwa 120 Kinder aus mehr als zehn Ländern in acht Klassen zusammen. Sechsjährige sitzen neben Zehnjährigen. Eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn stehen die Kinder Schlange an der Tür auf dem Gelände der ehemaligen Rantzau-Kaserne. In den Ferien sind sie traurig, weil der Unterricht ausfällt. Ein junges Kollegium baut diese Schule der etwas anderen Art seit Anfang des Jahres auf. Was mit der Einrichtung in Boostedt langfristig passieren soll, ist dabei stets ungewiss.

„Hier bist du nicht nur Lehrer, hier bist du Therapeut, Freund und Lebenscoach“, sagt Carolin Böhnke. Sie ist 28, so jung wie auch die meisten ihrer anderen Kollegen. Insgesamt zwölf Lehrer geben an der Außenstelle in Boostedt 20 Stunden in der Woche Unterricht. Es gibt Fächer wie Mathe, Geografie und Kunst, in erster Linie geht es aber um die Sprache. Manche Schüler haben das Lesen und Schreiben auch in der eigenen Sprache nicht gelernt. „Man kommuniziert mit Händen und Füßen, aber es klappt. Jeder Tag ist anders“, sagt Lehrer Benjamin Tober. Immer wieder sei es spannend, wovon die Kinder begeistert sind. „Eichhörnchen sind zum Beispiel total aufregend“, so Tober.

„Die Kinder bekommen an dieser Schule Zuwendung, Anerkennung und eine feste Struktur“, sagt Dagmar Drummen, Schulleiterin in Boostedt. Es braucht nur fünf Minuten in den Klassenzimmern, um zu verstehen, was sie meint. Lehrerin Michaela Kühl wird an jeder Ecke begrüßt und umarmt. „Es wird hier täglich gekuschelt“, sagt sie. Ihr breites Lächeln lässt keine Zweifel daran, wie sie das findet. „Als Lehrer muss man den Umgang an der Außenstelle wollen und mögen“, so Schulleiterin Drummen.

Es war eine Herausforderung für Drummen, Menschen wie Kühl und Böhnke zu finden – Menschen, die die Arbeit an der Außenstelle wollen und mögen. Und doch klappte das erstaunlich schnell. Im November 2017 erreichte die Schule einen Eilantrag vom Land mit der Forderung, eine Außenstelle zu schaffen. Bis dahin hatte sich die Landesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfartsverbände um die Beschulung in der Einrichtung gekümmert, Ende 2017 war der Vertrag aber ausgelaufen. In Deutschland gilt die gesetzliche Schulpflicht, auch für Kinder in einer Erstaufnahmeeinrichtung. Es musste also Anfang 2018 eine Schule her.

„Das ging zuerst mit nur einer Lehrkraft los. Ab dem ersten Februar hatten wir dann alle sechs Vollzeitstellen besetzt“, so Drummen. Manche von den zwölf neuen Lehrern arbeiten in Teilzeit oder geben noch Unterricht in Boostedt. Die Erfahrung war für sie und die Schulleiterin neu. Von den 600 regulären Schülern in Boostedt haben lediglich etwa zehn Migrationshintergrund.

Im Büro der Schulleiterin haben sich seit November 2017 viele Ordner zur Außenstelle gesammelt. „Es ist eigentlich Wahnsinn, wie viel wir momentan organisieren. Ich konnte mir das am Anfang selber nicht vorstellen.“ Aber auch Drummen entspricht der Anforderung, die sie selber an die Lehrer stellt. „Ich engagiere mich gerne. Jede Stunde Schulunterricht ist wertvoll für diese Kinder, das ist Teilhabe an unserer Gesellschaft, an Bildung und an Demokratie.“ Sie findet, dass es unter den gegebenen Bedingungen gut funktioniert.

Aber die Bedingungen sind eben alles andere als einfach. Falls man es in den Klassenräumen noch vergisst, an welchem Ort man sich befindet, ist eine Erinnerung nie weit weg. Die ehemalige Kaserne ist mit Leben gefüllt, aber umgeben von Gittern. Am Eingang wird man vom Wachpersonal kontrolliert. Es sind aber nicht die Umgebung, die langen Stunden, die vielen Weiterbildungen und der ungewöhnliche Unterricht, die den Job der Lehrer an der Außenstelle so anstrengend machen. Die Belastungsgrenze sei vielleicht manchmal erreicht, aber nicht überschritten, betonen die jungen Lehrer. Es sind die Einzelschicksale, die an ihnen zerren.

„Wenn ein Kind versetzt wird, erfahren wir das knapp eine Woche davor“, so Lehrerin Michaela Kühl. Versetzt, das heißt in eine andere Flüchtlingsunterkunft gebracht oder, im besten Fall, in einen Ort ohne Gitter und Eingangskontrollen. Von Abschiebungen erfahre man oft erst in der Nacht. Wer die Familien dann mitnimmt, wieso und wohin, darüber wissen die Lehrer nichts. Die Betroffenen sind einfach weg, am nächsten Tag ist die Klasse um einen Schüler kleiner.

Am schlimmsten sei das für die anderen Kinder, sagen die Lehrer. Sie verlieren oft nicht nur Nachbarn, sondern auch enge Freunde. Und mit jedem verschwundenen Schulkamerad geht auch das Gefühl für die eigene Sicherheit ein Stück weiter verloren. „Im Unterricht wird nach solchen Tagen viel geweint, die Schüler sind müde und traurig“, berichtet Carolin Böhnke. Das Wenige, was die Lehrer dann noch erfahren, kommt von den anderen Kindern. Über die sozialen Medien bleiben alte Freunde in Kontakt. Für die Lehrer, die mit ihrer ganzen Leidenschaft bei dem Job sind, ist das eine starke Belastung. Auch wenn sie es niemals zugeben würden. „Manchmal bin ich morgens müde, komme aber dann mit einem strahlenden Gesicht nach Hause“, sagt Kühl.

Eine große Frage schwebt unbeantwortet im Raum, wenn es um die Erstaufnahmeeinrichtung in Boostedt geht – wie lange ist sie überhaupt noch da? Die Landesregierung hat über das Gebäudemanagement Schleswig-Holstein (GM.SH) einen Vertrag bis 2019, mit der Option für eine Verlängerung bis 2024. Zwischendurch war von einer unbefristeten Nutzung die Rede, von dieser Stellungnahme rückte Kiel aber innerhalb weniger Tage ab. Auch die Bundeswehr erwägte im Februar, die ehemalige Kaserne für militärische Zwecke zu nutzen. Auch das war schnell vom Tisch. Seit 2015 sind auf dem Gelände keine Soldaten mehr stationiert. Die Tietje-Gruppe, ein Logistikunternehmen aus Itzehoe, wollte ursprünglich in das an der A 7 günstig liegende Gelände investieren. Nach aktuellem Stand soll die Erstaufnahmeeinrichtung bis 2024 bestehen bleiben.

Für den vor einigen Tagen wiedergewählten Boostedter Bürgermeister Hartmut König ist die Lage klar – Boostedt wird von der großen Politik alleingelassen. „Wir haben alle unsere Probleme alleine gelöst. Die Schule funktioniert vorbildlich.“ Er sei ein Verfechter vom Helfen, man könne aber den Boostedtern nicht alles zumuten. „Ein Dorf mit 4600 Einwohnern kann halt so viele Menschen nicht übernehmen“, sagt König. Aktuell sind etwa 1200 Flüchtlinge in der Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht, zwischenzeitlich waren es um die 2000. Trotz der „grottenschlechten“ Kommunikation der letzten Wochen und Monaten hofft der Bürgermeister auf eine baldige Entscheidung. Für ihn gehört dazu eine klare Ansage über den Zeitraum und eine deutliche Reduzierung der Zahl der untergebrachten Flüchtlinge.

Das langfristige Denken überlassen sowohl die Lehrer als auch die Schulleiterin anderen. Die Entscheider seien einfach zu weit weg, sagt Drummen über das Ministerium in Kiel. Dabei sind es über die A 7 keine 50 Kilometer. Gefühlt ist es eine andere Welt – eine, die bis zur Realität an der ehemaligen Kaserne nicht durchdringt.

„Wir halten uns aus der Diskussion über die Unterkunft raus und denken immer in kleinen Schritten“, sagt Carolin Böhnke stellvertretend für die Lehrer an der Außenstelle. Solange die Schule da ist, will Drummen weitermachen. „Wenn Kinder da sind, die Recht auf Schule haben, werde ich den Unterricht gewährleisten. Das ist meine Verantwortung als Schulleiterin“, sagt sie.