Kaltenkirchen. Thomas Käpernick von der KZ-Gedenkstätte Kaltenkirchen hat die Lebensgeschichten von ehemaligen Häftlingen aufgeschrieben.

„Wir hatten schlichte Streifenanzüge ohne Unterwäsche. So dass alle gelitten haben, da es kalt war. Und ich auch. Die ganze Zeit habe ich gezittert.” 15 Jahre war Mieczyslaw Swierczewski alt, als er in das Konzentrationslager Kaltenkirchen verschleppt wurde.

„40620!“ Pierre Vignes kann immer noch auf deutsch seine Häftlingsnummer nennen. Der Franzose hatte 1944 einen Mitschüler der Kolaboration mit der Wehrmacht beschuldigt, war verhaftet worden und kam ins KZ nach Kaltenkirchen, um den Flugplatz für Hitlers „Wunderwaffen“ auszubauen.

Die beiden Männer haben das Lager im Ortsteil Springhirsch überlebt. Ihr Leben ist jetzt in zwei neuen Heften nachzulesen, die der Historiker Thomas Käpernick für den Trägerverein der KZ-Gedenkstätte geschrieben hat.

Der Kaltenkirchener hat die betagten Opfer des Nationalsozialismus zu Hause besucht, lange Gespräche mit ihnen geführt und den Inhalt dokumentiert.

Thomas Käpernick hat die Interviews mit Überlebenden geführt
Thomas Käpernick hat die Interviews mit Überlebenden geführt © Wolfgang Klietz | Wolfgang Klietz

Damit liegen jetzt sieben Hefte mit Lebensgeschichten von Menschen aus dem Lager vor, das 1944 an der damaligen Reichsstraße 4 entstand und in dem mehrere 100 Menschen starben. In erster Linie sind die Hefte für Schulklassen konzipiert. Käpernick hat in verständlicher Sprache das Schicksal der Männer aufgeschrieben und mit Info-Kästen den Text ergänzt. Darin erklärt er zum Beispiel den Unterschied zwischen den Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto im Jahr 1943 und den Warschauer Aufstand im Jahr 1944, bei dem Swierczewskis Vater mitkämpfte und der junge Mieczyslaw als Bote für Waffen- und Munitionstransporte eingesetzt wurde.Die Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten fördert das Projekt, die Sparkasse Südholstein finanziert die Druckkosten. Die Hefte sind kostenlos in der Gedenkstätte erhältlich, der Trägerverein bittet im Gegenzug um eine Spende.

Käpernick spricht von einem „menschlichen Zeugnis“

Käpernick und Studenten der Universität Flensburg arbeiten außerdem an einem gemeinsamen Video, das demnächst veröffentlicht werden soll. Der Historiker und seine Kollegin Christine Eckel haben das Interview mit Vignes mit der Kamera aufgezeichnet. Das Gespräch dauerte vier Stunden und soll demnächst in gekürzter Form und filmisch professionell aufbereitet in der Gedenkstätte zu sehen sein.

Käpernick spricht von einem „menschlichen Zeugnis“. Vignes erinnere sich lebendig. „Er fügt ironische Redewendungen ein und bricht dadurch die Härte seiner Erfahrung – sicherlich eine Methode, um mit der Situation der Entmenschlichung umzugehen“, sagt Käpernick.

Vignes sei nach dem Gespräch völlig erschöpft gewesen. „Das hat ihn sehr mitgenommen“, berichtet Käpernick. Danach habe der Franzose angekündigt, nicht noch einmal über dieses Kapitel seines Lebens zu sprechen. Vignes war gemeinsam mit Georg Richter, dem Vater des Schauspielers Ilja Richter, in Kaltenkirchen gefangen. Auch über Georg Richter liegt ein Heft vor. Wie sein Sohn seinen Vater erlebte und wie die Familie in der Nachkriegszeit mit seinem Schicksal umging, wird Thema eines Films sein, der ebenfalls an der Universität Flensburg entsteht.

In den bereits vorliegenden Heften hat sich Käpernick außerdem mit dem Häftling Werner Eckstein beschäftigt. „Doppelt verfolgt“ lautet der Titel. Eckstein war Sozialdemokrat und Jude. Da er keine Kinder hinterließ, konnte sein Schicksal nur mit Informationen aus Akten beschrieben werden. „Wir mussten ihn dem Vergessen entreißen“, sagt Käpernick. Nach dem Krieg ging Eckstein in Rheinland-Pfalz in die Landespolitik. Er starb 1961. Unter seiner Todesanzeige stand nur der Name seiner Frau Veronika.

Käpernick plant die Veröffentlichung weiterer Lebensgeschichten. Zu den Menschen, mit denen er sich beschäftigen wird, gehört der Franzose Richard Tackx, nach dem in Kaltenkirchen eine Straße benannt wurde. Der Häftling gehörte im Lager zum Beerdigungskommando. Heimlich steckte er unter Einsatz seines Lebens seinen verstorbenen französischen Kameraden Erkennungszeichen zu. Damit sorgte er dafür, dass 1951 68 Häftlinge aus einem Massengrab exhumiert und identifiziert werden konnten. Sie wurden in ihrer Heimat begraben.

Drei Häftlinge aus dem Lager sind noch am Leben

Für wichtig hält der Historiker außerdem Forschungen zu sowjetischen Gefangenen, die die größte Gruppe im Lager bildeten. Doch über diese Männer liegen kaum Informationen; in Russland sind sie kaum zu beschaffen.

Auch an der Lebensgeschichte von Tätern ist Käpernick interessiert. Dabei kann er sich auf Forschungen des Alveslohers Gerhard Hoch zum Lagerältesten Johannes Wehres und zu zwei Lagerführern stützen.

Der Schauspieler Ilja Richter in der KZ-Gedenkstätte
Der Schauspieler Ilja Richter in der KZ-Gedenkstätte © LNBILD | Heike Hiltrop

Bei der Suche nach Tätern hofft Käpernick, dass sich der Enkel eines Wachmanns erneut in der Gedenkstätte meldet und über das Leben seines Großvaters berichtet. Im Frühwinter 2017 habe der Mann, der vermutlich im Hamburger Stadtteil Schnelsen lebt, das einstige Lager besucht und von Gesprächen mit seinem Großvater über Kaltenkirchen berichtet. Außerdem erzählte der Besucher von Besuchen eines gewissen „SS-Müller“ in der Familie. Die Kontaktdaten des Besuchers wurden nicht festgehalten.

Vignes gehört zu den letzten Häftlingen des Lagers, die noch am Leben sind. In Frankreich lebt außerdem der in Kaltenkirchen inhaftierte Paul Krattinger. Er ist 96 Jahre alt. Der Pole Edward Stefaniak, der in Warschau lebt, war zu schwach für ein langes Interview.