Norderstedt. Vor zehn Jahren litt Mathies Becker an einer lebensgefährlichen Blutkrankheit. Das löste eine Welle der Solidarität in Norderstedt aus.
Er hat das einfach alles vergessen. Wenn man ihn danach befragt, schaut er belustigt bis irritiert, wie 14 Jahre alte Pubertierende eben so schauen – und er zuckt mit den Schultern. „Nö, weiß nicht, keine Ahnung“, sagt er, lächelt und entblößt die Spangen auf den Zahnreihen. Angesichts der Monstrosität dessen, was Mathies Becker als fünf Jahre alter Knirps durchgemacht hat, ist das Vergessen die wohl beste Therapie. Der Junge lebt unbeschwert und stinknormal – eine großartige Nachricht für alle, die sich noch erinnern.
Daran, wie im Oktober 2008 seine drei Taufpatinnen Silke Brachmeyer, Connie Suhr und Anja Fürstenberg im Abendblatt an die Öffentlichkeit appellierten, dabei zu helfen, dem Jungen das Leben zu retten. Mathies litt an der aplastischen Anämie, eine Art Blutkrebs, sehr selten, sehr böse und unbehandelt absolut tödlich. Die Hoffnung war, dass irgendwo auf der Welt ein passender Knochenmarkspender herumläuft. Die Wahrscheinlichkeit ihn zu finden, lag bestenfalls bei 1:20.000.
Ein Jahr zwischen Leben und Tod
Die Reaktion auf den Appell der Patinnen ist ein Stück Norderstedter Stadtgeschichte. Gemeinsam mit der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) organisierten die Tanten eine Typisierungsaktion in Norderstedt, bei der 6000 Menschen ihre Blutprobe abgaben, um sich als potenzielle Spender registrieren zu lassen. Zusätzlich wurden 200.000 Euro an Spenden gesammelt, um einen Großteil der Kosten (50 Euro je Typisierung) zu bezahlen. HSV-Legende Uwe Seeler war der Schirmherr der Aktion. Eine ganze Stadt nahm Anteil am Schicksal der Familie Becker und machte die Aktion zu einer der erfolgreichsten in der Geschichte der DKMS. Doch viel wichtiger war, dass schließlich tatsächlich ein passender Spender für Mathies gefunden wurde. „Es war ein Mann um die 50 aus dem Raum Frankfurt“, sagt Mutter Simone Becker, „Er war als Spender in einer Ulmer Spenderkartei gespeichert.“
Der kleine Mathies kam kurz vor Weihnachten 2008 auf eine Isolierstation der Kinderklinik am UKE in Hamburg. Am 15. Dezember bekam er die lebensrettenden Stammzellen verabreicht. Dieser Tag war so etwas wie sein zweiter Geburtstag.
„Mathies war unheimlich stark“, sagt Simone Becker, „wir haben ihn nicht damit konfrontiert, dass es um sein Leben geht. Aber er wusste, dass es eine schwere Krankheit ist.“ In der Klinik etwa brannte regelmäßig eine Kerze auf einem Tisch. Mal mit rosa, mal mit blauem Deckchen darunter – je nach dem, ob ein Mädchen oder ein Junge gestorben war. „Mathies fragte eine Krankenschwester danach, er machte sich also schon seine Gedanken.“
Mathies hört zu, wenn seine Eltern von damals erzählen – aber so, als ob es um einen anderen und nicht um ihn ginge. In seinem Leben sind die Schwerpunkte andere. Mathies geht auf das Gymnasium Harksheide, spielt Tischtennis bei TuRa Harksheide und hat gerade ein erstes Berufs-Schülerpraktikum bei einem Makler gemacht. Er träumt von einem Auslandsaufenthalt nach der Schule und freut sich auf all das, was sein Leben ihm noch bieten wird.
Genau diese Sinnfrage haben sich die Eltern auch gestellt. Die Krankheit ihres Sohnes hat sie mehr geprägt als Mathies. Vater Gunnar Becker beschloss, dass es keinen Sinn mache, sein Leben zu 90 Prozent mit Arbeit auszufüllen. Er schmiss seinen gut dotierten Traumjob als Manager bei Yamaha hin und machte sich selbstständig – im Home Office. „Ich will mehr Zeit mit der Familie und mit Mathies verbringen – das ist kostbar.“ An Papa ante Portas musste sich Mutter Simone Becker erst mal gewöhnen. Sie suchte sich einen Halbtagsjob, um einfach ihr ganz eigenes Ding zu machen.
„Wir leben unseren Alltag mit Mathies und seinen beiden Schwestern Merle und Svenja – ganz normal“, sagt Simone Becker. Kürzlich hat sie einen Zettel von der Pinnwand in der Küche entfernt. „Mathies der Berühmte“ stand da drauf. Damit wurde damals immer Mathies’ keimfreie Trinkflasche markiert. Simone Becker: „Ich hatte einfach das Gefühl, dass es Zeit ist, ihn wegzuwerfen.“