Bad Segeberg. Private Unterstützer, Sponsoren und HafenCity-Universität realisieren das erste virtuelle historische Modell einer deutschen Stadt.
Ich bin an einem regnerischen Novemberabend in der Kreisstadt. Es ist kurz vor 18 Uhr und schon dunkel. Gleichzeitig scheint vor meinen Augen die Sonne. Vor mir steht die Siegesburg auf dem mächtigen Kalkberg, der vor vier Jahrhunderten noch das Stadtbild geprägt hat. Es ist so, als wäre ich mitten in einem Geschichtsbuch gelandet. Mit einer Virtual-Reality-Brille auf dem Kopf spaziere ich durch das alte Segeberg – es ist die erste virtuelle historische Stadt Deutschlands.
Nils Hinrichsen, Leiter des Museums in Bad Segeberg, tüftelt schon seit Jahren an dem virtuellen Stadtmodell. Alles hat mit einer Vermessung des Alt-Segeberger Bürgerhauses angefangen. Im Jahr 2011 wurde das heutige Museumsgebäude zum ersten Mal vermessen. Später diente es als Muster für weitere Gebäude. Heute spaziere ich durch eine etwa zwei Quadratkilometer große Fläche mit etwa 220 Häusern im Echtmaßstab.
Die Straßen der historischen Stadt führen zu zahlreichen Sehenswürdigkeiten. Am östlichen Rand der Stadt steht etwa das steinerne „Lübische“ Stadttor. Am kleinen See findet man den Renaissance-Palast von Heinrich Rantzau, der im Laufe der Jahre abgerissen wurde. In einem Segeberg des späten 16. Jahrhunderts darf die Siegesburg auf dem damals noch vollständigen Kalkberg nicht fehlen. „Was ich sonst im Museum mit Fusseln im Mund erzähle, ist hier sofort zu sehen“, sagt Hinrichsen.
Zu rekonstruieren, wie die Stadt um das Jahr 1600 ausgesehen habe, sei einer der ersten wichtigen Schritte gewesen. „Dazu habe ich mit vielen Historikern gesprochen. Von ihnen habe ich zum Beispiel gelernt, dass die modernen Häuser in dieser Zeit große Fenster hatten, um viel Licht reinzulassen“, so der Museumsleiter.
Das Stadtbild baute Hinrichsen geschichtstreu anhand von historischen Karten nach, die älteste von ihnen aus dem Jahr 1648. Die Karten und zeitgenössische Stiche hat er schließlich auf heutige Satellitenbilder der Stadt projiziert. „Mit vielen Kriterien kann man die historische Stadt annähernd realistisch bauen“, sagt Hinrichsen. Es gehe hier nicht um Fantasieburgen, sondern um erlebbare Geschichte.
Darauf sind Joachim Geppert und Manfred Quaaz vom Förderverein „Freundeskreis Segeberger Bürgerhaus von 1541“ stolz. Der Verein fördert seit seiner Gründung im Jahr 2014 das Museum Alt-Segeberger Bauhaus. Nils Hinrichsen habe das Museum der Stadt komplett umgekrempelt, betont Quaaz, Vorsitzender des Vereins. „Wo früher Pötte und Pfannen ausgestellt waren, sieht man heute die ganze Stadtgeschichte“, sagt er. Geppert fieberte von Anfang an für das gemeinsame Projekt: „Es ist eigentlich wahnsinnig. Auch wenn ich ganz genau weiß, dass ich bei Nils im Wohnzimmer bin, stehe ich gleichzeitig auf der Siegesburg. Und wenn ich nach unten schaue, wird mir ein bisschen schwindlig.“ Die Begeisterung des Fördervereins und des Museumsleiters war wohl der Grund, warum die HafenCity Universität 2016 mit einer gewaltigen Aufgabe beauftragt wurde – das „Bauen“ der virtuellen Stadt. Simon Deggim aus dem Fachbereich Informatik war der Hauptgestalter. Nachdem er schon ein Jahr davor für seine Masterarbeit ein Modell des Alt-Segeberger Bürgerhauses erstellt hatte, nahmen er und seine Kollegen sich nun in einem Jahr die ganze Stadt vor. „Bis spät in die Nacht haben wir uns E-Mails hin- und hergeschickt. Wir mussten alles bis zu dem letzten Balken ausdiskutieren“, erinnert sich Hinrichsen. „Er hat alles gebaut, was ich im Kopf hatte.“
Doch auch virtuelle Ziegelsteine kosten Geld. Zu dem einzigartigen Projekt gehört ein ebenso interessantes Finanzierungsmodell. Es handelt sich dabei um eine Art Crowdfunding: Eine Vielzahl an Menschen und Unternehmen haben in das Projekt investiert. Jedes einzelne Gebäude in dem Modell steht zum Verkauf. Auf dem gekauften Objekt wird der Name der Person oder des Unternehmens gekennzeichnet – als Werbung in der virtuellen Welt. So haben etwa der Lions Club mit 2000 Euro die Siegesburg und die VR Bank mit 1000 Euro den Rantzau-Palast finanziert. Auch kleinere Fördersummenen ab 50 Euro sind möglich, bisher kamen so etwa 25.000 Euro zusammen. Damit wurde die Stadt in ihrem jetzigen Zustand sowie die notwendige technische Ausstattung finanziert.
Spender gesucht
Das gemeinsame Ziel von Hinrichsen und dem Verein ist es jetzt, ihre Arbeit der Öffentlichkeit zu zeigen. „Es bringt ja nichts, wenn das irgendwo in einer Garage oder im Wohnzimmer rumsteht. Wir streben an, dass das Modell an ein paar Tagen in der Woche für Besucher zugänglich ist“, so Geppert. Es soll ein Angebot für Schüler, Segeberger und Touristen werden.
Doch bevor es soweit ist, fehlen zwei Dinge: das Personal und die Räumlichkeiten. „Das Museum in Segeberg ist extrem klein, da gibt es keinen Platz für das Projekt“, sagt Geppert. Um wirklich durch die Stadt spazieren zu können, braucht man Freiraum. Und jemand, der mit der Technologie vertraut ist. Um einem Besucher etwa die eingebauten Abkürzungen zu zeigen, die direkt zur Siegesburg führen.
Und, wie meine persönliche Erfahrung zeigt, um aufzupassen, dass man nicht vor lauter Begeisterung für das Virtuelle gegen einen echten Tisch aus hartem Holz läuft.