Bad Bramstedt. Viele Ereignisse sind in Vergessenheit geraten. Das Abendblatt geht auf Spurensuche. Heute: Die Geschichte von Karl Gustav Wilckens.

25. Januar 1923. Schon am frühen Morgen ist es heiß in Buenos Aires. Mit der Straßenbahn kommt ein nordeuropäisch aussehender Mann aus der Innenstadt, steigt an der Plaza Italia im Stadtteil Palermo aus und geht in Richtung Fitz-Roy-Straße. Der ruhig und gelassen wirkende Mann trägt ein Päckchen, dass sein Mittagessen enthalten könnte. Er stellt sich unauffällig an die Straßenecke - es sieht aus, als warte er auf einen Freund. Aber das täuscht: Seit Tagen schon beobachtet er das Haus von Oberst Varela, der bei den Arbeitern „Schlächter von Patagonien“ genannt wird.

Sie geben ihm die Schuld am Tod von 1500 streikenden Landarbeitern. Der Mann wartet, zieht seinen Hut tief ins Gesicht, blickt immer wieder zum Hauseingang. Der Oberst tritt hinaus, küsst seine Tochter zum Abschied, geht die Straße hinunter, trifft auf den elegant gekleideten Herrn mit dem Päckchen unter dem Arm, stutzt, bleibt stehen – zu spät: Der Unbekannte wirft ihm das Päckchen vor die Füße, die darin enthaltende Granate explodiert, der Oberst wird schwer verletzt. Als er versucht, sich am Laternenmast festhalten, zieht sein Gegenüber die Pistole und feuert fünf Mal. Oberst Varela stirbt auf offener Straße.

In Patagonien ist ein Berg nach dem Bramstedter benannt

Eine Szene, die von einem Drehbuchautor stammen könnte. Tatsächlich kann sie heute jederzeit im Internet abgerufen werden. Es ist eine Sequenz aus dem Film „Aufstand in Patagonien“ des Regisseurs Héctor Olivera, der 1974 mit dem Silbernen Bären der Berliner Filmtage ausgezeichnet wurde. Gedreht wurde der Film nach dem gleichnamigen Buch von Osvaldo Bayer, der die Geschichte und den Hintergrund dieses Attentats recherchierte und aufschrieb.

So unwahrscheinlich es heute erscheinen mag, aber der Ausgangspunkt dieser Geschichte liegt in Bad Bramstedt. Denn hier kam Kurt Gustav Wilckens am 3. November 1886 zur Welt. Der spätere Gewerkschafter und Anarchist wurde als Attentäter festgenommen, vom Volk aber gefeiert.

Ein einfacher Mann aus Bad Bramstedt, der in Argentinien wie ein Nationalheld gefeiert wurde, der bis heute verehrt wird, dem Bücher, Gedichte, Lieder und Filme gewidmet sind, nach dem sogar ein Berg in Patagonien benannt ist: Was steckt hinter dieser fast unglaublichen Geschichte, von der in seiner Heimatstadt heute nur noch wenig bekannt ist?

Tatsächlich ist Kurt Gustav Wilckens in Argentinien als Held der sozialrevolutionären Arbeiterbewegung heute noch so bekannt, wie in anderen lateinamerikanischen Ländern zum Beispiel der marxistische Revolutionär und Guerillaführer Che Guevara.

Vom Gärtnerlehrling zum Wanderarbeiter in den USA

Wilckens ist 1887 als Sohn von Johanna und August Wilckens in einem Haus direkt neben dem Rathaus zur Welt gekommen. Der Vater ist ein angesehener Geschäftsmann, die Mutter Hausfrau. Sie bekommt acht weitere Kinder. Nach neun Schuljahren beginnt er eine Gärtnerlehre, kommt mit 19 Jahren in ein Eliteinfanterieregiment nach Berlin. Zwar wird er dort auf den Krieg vorbereitet, aber schon 1906 wandert er in die USA aus und beginnt dort zunächst ein Leben als Wanderarbeiter. Ein ungebundenes Leben in der Natur mit wenig Gepäck – Kurt Gustav Wilckens lebt nach den Grundsätzen, die sein Idol, der Schriftsteller Lew Tolstoi, geprägt hat. Er wird zu einem Pazifisten, der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ablehnt.

In einer Fischfabrik organisiert Wilckens erstmals einen gewaltlosen Widerstand und gerät dadurch in Konflikt mit den US-Behörden. Sein „Vergehen“: Er stiftet Arbeiter dazu an, Fischreste, die für die Geschäfte der Armen gedacht sind, an die Geschäfte der Reichen zu schicken, die Filetstücke aber für die Armen auszuliefern. Später wird er Sprecher der Bergarbeiter, organisiert einen Streik und wird von den Zeitungen als „Der gefährlichste Rote des Westens“ bezeichnet. Er wird inhaftiert, flüchtet und wird schließlich 1917 nach Deutschland ausgewiesen, wo er in Hamburg Kontakt mit dem anarchistischen Freibund aufnimmt, der ihm wiederum auf die anarchistische Arbeiterbewegung im argentinischen Teil Patagoniens aufmerksam macht.

Bevor er in sein „Traumland“ aufbricht, reist Wilckens noch einmal nach Bad Bramstedt, um seine Familie und die todkranke Mutter zu besuchen. Nach dem Tod der Mutter verzichtet er auf sein Erbe, gibt seinem Bruder Generalvollmacht und wandert erneut aus: Im September 1920 landet er in Buenos Aires, reist nach Patagonien, findet dort aber kein Paradies vor, sondern die schlimmste Form von Ausbeutung, die er je erlebt hat.

Attentat mit einer selbstgebauten Granate

Es kommt zu einem Landarbeiteraufstand und zu einem Generalstreik: Ein Territorium, so groß wie Deutschland, wird lahmgelegt. Die Lage eskaliert, die Regierung bittet Oberst Héctor B. Varela um Hilfe, der „seine Pflicht“ erfüllt und ein Massaker befiehlt: 1500 Landarbeiter werden ermordet. Der Oberst geht als „Schlächter von Patagonien“ in die Geschichte des Landes ein.

Wilkens, der keine Ungerechtigkeit ertragen kann, ist erschüttert. „Wenn dieser Oberst weiter lebt, wird er wieder ein Massaker anrichten“, sagt der „Gringo“ zu seinen Freunden und beschließt, Varela zu ermorden. Von vornherein steht für ihn fest, dass er die Tat alleine begehen würde, lediglich ein Fluchtauto mit Chauffeur sollte bereitstehen. Mit einer selbstgebauten Granate steht er dem Oberst schließlich am frühen Morgen des 25. Januar 1923 gegenüber um ihn zur Rechenschaft für sein planmäßiges Hinrichten und Verscharren der streikenden Landarbeiter Patagoniens zu ziehen.

Bei dem Attentat verletzen Splitter sein Bein, er kann nicht fliehen, wird verhaftet. „Ich habe meine Brüder gerächt!“, ruft er in diesem Moment. Viele Argentinier schämen sich, weil ein Deutscher aus Bad Bramstedt den Mut hatte, den „Schlächter von Patagonien“ zu bestrafen.

Das Gericht verurteilt den Bramstedter Kurt Gustav Wilckens zu 17 Jahren Gefängnis, was Argentiniens Militär und den Rechten des Landes als zu milde erscheint. Sie schleusen einen Gefängniswärter, Mitglied einer faschistischen Gruppe und entfernter Verwandter von Oberst Varela, ein. Der erschießt den Gefangenen schließlich am 15. Juni 1923 im Schlaf. Danach kommt es in Argentinien zu einem Generalstreik, sogar in Deutschland kommt es wenige Tage später zu einer Protestkundgebung in Berlin. Der „Fall Wilckens“ macht weltweit Schlagzeilen.

Kurt Gustav Wilkens wird zum Held der Arbeiterklasse. Es entstehen Gedichte und Lieder, mit denen der Bramstedter Bürgersohn in den Stand der Unsterblichkeit erhoben wird. Mehrere Bücher werden über ihn geschrieben. Eine Gedenktafel, wie vom SPD-Politiker Jan-Uwe Schadendorf vor einigen Jahren angeregt, gibt es bisher in Bad Bramstedt nicht. Schadendorf hatte empfohlen, sie am Geburtshaus des Volkshelden anzubringen, aber die Familie Wilckens, die immer noch im Besitz des Hauses ist, lehnte ab. Das Grab seiner Eltern und seines Bruders Max ist noch auf dem Friedhof erhalten.