Norderstedt. Norderstedter Grundschüler versetzten sich in deren Situation. Zahl der Kinder und Jugendlichen aus Krisengebieten steigt.

„Die Enge, wenn die Kinder aneinandergedrückt sind, das halten einige nicht aus. Sie wollen raus, geben vor, auf Toilette zu müssen“, sagt Marco Griesbach. Der Vater eines Kindes an der Grundschule Heidberg steht in der Turnhalle an zwei Sprungkästen, dazwischen ein Dutzend zusammengepferchte Grundschüler – sie erleben für einen kurzen Augenblick, was Flüchtlingskinder über Stunden oder sogar Tage erleiden, wenn sie mit maroden und überladenen Booten aus den Kriegs- und Krisengebieten nach Deutschland fliehen.

Wie sich Jungen und Mädchen fühlen, wenn sie ihre Heimat verlassen, vielleicht den Vater oder Geschwister, in jedem Fall die Freunde zurücklassen müssen, und was es bedeutet, in einem Land anzukommen, dessen Sprache sie nicht sprechen und dessen Kultur sie nicht kennen – darum ging es in einem Projekt der Grundschule Heidberg. „Wir wollen unsere Schüler auch auf die Kinder vorbereiten, die demnächst zu uns kommen werden“, sagte Lehrerin Melanie Laubach, die das Projekt leitete.

Die Grundschüler testeten, wie es ist, mit einem rund fünf Kilo schweren Rucksack unterwegs zu sein.
Die Grundschüler testeten, wie es ist, mit einem rund fünf Kilo schweren Rucksack unterwegs zu sein. © Michael Schick | Michael Schick

Am ersten Tag bereiteten die Lehrer die Norderstedter Schüler in den Klassenräumen vor, am zweiten durchliefen sie 14 Stationen. Sie bastelten Peace- und Friedenszeichen, packten schnell einen Koffer mit den wichtigsten Sachen für die Flucht, wo nicht einmal mehr Zeit und Platz für das Kuscheltier war, gingen mit etwa fünf Kilo schweren Rucksäcken ein ganzes Stück, um zu erfühlen, welche Last auf dem Rücken der Flüchtlingskinder ruht, und setzten Puzzleteile zu einer Weltkarte zusammen.

Zurzeit besuchen 111 Kinder und Jugendliche, die nach der Flucht in Norderstedt angekommen sind, die Schulen in der Stadt. 40 lernen an den Grundschulen, wobei die Schulen in Friedrichsgabe und am Falkenberg mehr Jungen und Mädchen aufgenommen haben als die anderen. Eingebunden ist das Zentrum für Deutsch als Zweitsprache (DaZ). „Die Grundschüler aus Syrien, Eritrea, Afghanistan oder dem Irak lernen täglich in der ersten und zweiten Stunde im DaZ-Zen­trum Deutsch“, sagt Norderstedts Integrationsbeauftragte Heide Kröger.

Die Älteren verbringen den gesamten Vormittag damit, gezielt deutsche Wörter, Grammatik und Landeskunde zu lernen. In der Regel dauert es ein Jahr, bis sie auf eine Gemeinschaftsschule oder ein Gymnasium wechseln können. „Bisher haben wir weniger Flüchtlingskinder und -jugendliche aufgenommen als im Bundesschnitt“, sagt Sozialdezernentin Anette Reinders. In Norderstedt liege der Anteil der Schutzsuchenden unter 18 bei zehn Prozent. Das Bild ändere sich allerdings gerade, der Anteil der Jüngeren nehme deutlich zu. 20 stehen auf der Warteliste für den nächsten Deutschkursus, der am 1. Dezember startet.

Die Grundschüler mussten ihrer Namen auf Arabisch schreiben.
Die Grundschüler mussten ihrer Namen auf Arabisch schreiben. © Michael Schick | Michael Schick

Das Vorwissen ist, so Heide Kröger, sehr unterschiedlich. Diejenigen, die sich zur Flucht entschließen, seien oft gut gebildet und hätten das nötige Geld, um die Fluchthelfer zu bezahlen. Die Kinder hätten Englisch oder Französisch gelernt, kennen das lateinische Alphabet. „Es gibt aber einige, die nur Arabisch oder Kurdisch können und eine spezielle Alphabetisierung brauchen“, sagt die Integrationsbeauftragte, die die Deutschkurse organisiert. Sie erinnert sich auch an einen Jungen, der zwei Jahre auf der Flucht war, dadurch seine „Buchstabenfähigkeit“ komplett verloren habe und ganz von vorn in die Welt der Buchstaben eintauchen müsse. Das Lernen werde bei manchen Kindern durch traumatische Erlebnisse während der Flucht erschwert, Bilder, die plötzlich in den Köpfen auftauchen und die Gegenwart blockieren. „Es kommt vor, dass Familien getrennt werden, der Vater, der mit Kindern am Anfang der Schlange stand, kann weiterziehen, die Mutter, die mit den anderen Kindern hinten war, wurde festgenommen.

Heide Kröger hat sich gerade mit der Schulrätin und den Schulleitern in Norderstedt getroffen, um die Situation zu besprechen, wenn die Jugendlichen nach einem Jahr Deutsch im nächsten Sommer an die weiterführenden Schulen kommen. Nach Absprache mit dem Schulamt soll es insgesamt zwei zusätzliche Klassen geben – das ist eine rechnerische Größe, um zu ermitteln, wie viele Lehrerstunden es dafür geben wird, die Zahl richte sich nach der Zahl der Schüler. „Es kann gut sein, dass so aus einer zwei Klassen gebildet werden können“, sagt die Integrationsbeauftragte. Die Flüchtlingskinder würden auf mehrere Klassen verteilt. Heide Kröger würde sich über weitere Lehrkräfte freuen. Voraussetzung ist die Qualifikation, um Deutsch als Zweitsprache zu unterrichten. Wer den Flüchtlingskindern beim Sprachstart helfen will, meldet sich bei Heide Kröger unter Telefon 040/535 96 916.