Kreis Segeberg. 2000 Flüchtlinge leben in der 4600 Einwohner zählenden Gemeinde. Die Anschläge von Paris haben die Menschen schockiert
„Ich danke Gott, dass ich mich jetzt sicher fühlen kann. Und ich danke Deutschland.“ Ziad Alhajjar hat wieder ein eigenes Bett. Die Stube in der stillgelegten Kaserne in Boostedt ist beheizt. Dort lebt mit seinem 16 Jahre alten Bruder Baraa. Dreimal am Tag bekommen beide eine Mahlzeit. Das war in den vergangenen Wochen nicht immer so. Ziad und Baraa kommen aus einer der gefährlichsten Regionen der Welt. In der syrischen Hauptstadt Damaskus kämpfen Regierungstruppen gegen Aufständische. In den Straßen explodieren Bomben. Kämpfer versuchen junge Männer wie den 20-jährigen Elektrotechnik-Studenten Ziad zu zwingen, in den Krieg zu ziehen. Darum sind die beiden über die Balkanroute geflohen. Auf der Fahrt mit einem kleinen Boot von der Türkei nach Griechenland habe er gefürchtet, in der rauen See zu ertrinken. Ziad sitzt auf einer Bank vor der Kaserne, in der das Land ein Erstaufnahmelager eingerichtet hat. Ziad will es noch einmal sagen: „Seit vier Jahren habe ich nicht mehr so sicher gefühlt wie jetzt.“
„Ich hoffe, dass niemand einen Bezug zu den Flüchtlingen herstellt“
Fast 2000 Menschen wie Ziad leben in der Kaserne in Boostedt. Das Dorf ist etwa doppelt so groß und zählt 4600 Einwohner. Ein Zahlenverhältnis, das manchen Bewohner Sorgen bereitet. Einer von ihnen ist Dietmar Kühl. „Kriegsflüchtlinge sind herzlich willkommen“, sagt der Mitbegründer der Bürgerinitiative Boostedt. „Wir dürfen die Grenzen nicht dicht machen, aber die Verteilung ist das Problem.“ Er spricht von einem „Unbehagen“ in der Gemeinde, seitdem die Zahl der Flüchtlinge in der Kaserne immer weiter steigt. Ende des vergangenen hatte die Landesregierung noch versprochen, dass nach Boostedt nicht mehr als 500 Flüchtlinge kommen werden.
Die Anschläge vor Paris könnten dazu beitragen, dass die NPD Hoffnung schöpft, sich in Boostedt zu etablieren, fürchtet Kühl. „Alle im Dorf sind geschockt“, sagt er. „Und ich hoffe, dass niemand einen Bezug zu den Flüchtlingen herstellt. Das wäre ein Fehler.“
Nicht Menschen wie Ziad machen dem 47-Jährigen Angst. Kühl sorgt sich, dass Boostedt Schauplatz von Gewalt aus der rechtsextremen Szene wird. „Der Nährboden wächst“, sagt der Industriemeister für Glas, der mit seiner Lebensgefährtin in einem Einfamilienhaus am Rand des Dorfes lebt und zum Landesvorstand der konservativen Partei Allianz für Fortschritt und Aufbruch (Alfa) angehört.
Das Dorfleben und das Bild des Dorfes haben sich verändert, sagt Kühl. In Boostedt sind sehr viele junge Männer unterwegs. Er berichtet von Frauen, die abends nur noch ungern zum Netto-Markt gehen, der an der Landstraße gegenüber der Zufahrt zur Flüchtlingsunterkunft liegt. Nein, Angst herrsche in Boostedt nicht, aber Unbehagen, sagt Kühl. Er fordert das Land auf, die Zahl der Flüchtlinge in Boostedt zu reduzieren. „Sonst sind es irgendwann 4500.“ Und damit genauso viele Menschen wie Boostedt Einwohner hat.
„Wie viele Flüchtlinge verkraftet Boostedt?“, stand auf Plakaten, die Mitglieder der Bürgerinitiative Boostedt bei der Einwohnerversammlung zur Flüchtlingsunterkunft im Oktober schweigend hoch hielten. „Wir haben Angst vor rechter Gewalt“, schrieben andere auf die Pappschilder. 200 Menschen hatten sich demonstrativ mit den Schildern versammelt. Mit den Neonazis wolle seine Bürgerinitiative nichts zu tun haben, doch manche Mitglieder fürchten, dass Kritik an der Flüchtlingspolitik mit Pegida und braunem Polit-Sumpf gleichgesetzt wird. Die meisten Teilnehmer der Plakataktion schwiegen„Viele wollen sich nicht äußer, weil sie Angst haben, in die rechte Ecke gestellt zu werden“, sagt Kühl.
Dort gehen die braunen Kräfte offensiv dazu über, Unsicherheit und Ängste offensiv zu schüren. Das hat sich beispielsweise die NPD vorgenommen. Die Partei aus dem braunen Lager versucht seit Monaten, in Boostedt Anhänger zu gewinnen. „Sicher leben. Asylflut stoppen!“, schreiben die Extremisten auf ihrer Homepage. Doch der Versuch, sich in der Gemeinde zu etablieren, ist bislang gescheitert. Als die NPD mit fünf Mann vor zwei Wochen wieder einmal an einem Sonnabend einen Infostand in der Gemeinde aufstellte, standen ihr 170 Gegendemonstranten gegenüber.
Auf das Konto von Rechtsextremen gehen vermutlich drei Anschläge
Inzwischen hat auch der Verfassungsschutz erkannt, dass Neonazis versuchen, in Boostedt politisches Kapital aus der dramatisch anwachsenden Zahl der Flüchtlinge zu schlagen. Aufmerksam haben die Geheimdienstler die Vorgänge in einer Facebook-Gruppe beobachtet, in der kritisch über die Unterkunft auf dem Kasernengelände diskutiert wurde. Als der Verantwortliche der Seite, Thomas G., die Urheber von Hetzparolen ausschließen wollte, wurde er bedroht, bis er entnervt die Seite schloss. Inzwischen haben zwei NPD-Funktionäre die Seite übernommen, die öffentlich nicht mehr sichtbar ist. „Die Rechten versuchen, das Thema Flüchtlinge für sich zu nutzen“, sagt ein leitender Polizeibeamter. „Bislang aber nur mir mäßigem Erfolg.“
Auf das Konto von Rechtsextremen gehen vermutlich auch Anschläge, über die im Dorf bislang nur wenige Menschen wissen. Dreimal haben Unbekannte zwischen dem 31. Juli und dem 7. August Steine auf das Fenster des Pastorats in Boostedt geworfen. Ziel war dabei auch das Schlafzimmer von Pastor Thomas Lemke , der mit seiner Bartholomäus-Gemeinde Hilfe für die Flüchtlinge in der Kaserne organisiert. Die stabilen Fenster bewahrten den schlafenden Pastor vor schweren Verletzungen. Umfangreiche Ermittlungen der Staatsschutzabteilung führten bislang zu keinem Ergebnis.
„Die Hintergründe sind unklar“, sagte ein Polizeisprecher. Doch kaum ein Ermittler hat Zweifel daran, dass die Täter aus der rechtsextremen Szene kommen und den engagierten Pastor und mit ihm seine Gemeinde einschüchtern wollen.
„Wenn Menschen miteinander reden, haben sie weniger Angst voreinander“, sagt Hartmut David von der „Flüchtlingspartnerschaft“ der Bartholomäus-Gemeinde. „Entspannung durch Begegnung“ nennt er das Prinzip. Die Aktion entstand im September 2014, als Boostedt erstmals als Erstaufnahmelager im Gespräch war.
30 bis 40 Helfer sind jedes Mal im Einsatz, wenn die Kirchengemeinde Flüchtlinge zum Café Welcome ins Gemeindehaus einlädt. „Der Raum platz dann aus allen Nähten“, sagt David. „Es kommen um die 120 Menschen.“ Pastor Lemke begrüßt die Gäste. Viele Familien mit Kindern gehören dazu. Saft, Kaffee und Kuchen stehen bereit, auch die Boostedter sind eingeladen. Zwar liegen Bibeln in arabischer Sprache aus, doch er wolle nicht missionieren, sagt David, der im Dorf den evangelischen Kindergarten leitet. Die Flüchtlingspartnerschaft versuche, mit den Menschen aus der Kaserne ins Gespräch zu kommen. „Das strahlt auch in den Ort aus“, sagt er.
Die Ehrenamtler geben an sechs Tagen in der Woche Deutschunterricht
Und die Folgen von Paris? „Das wird noch mehr Unsicherheit im Dorf schaffen“, sagt David. Er fürchtet, dass jetzt wieder diskutiert wird, ob mit den Flüchtlingen auch Terroristen nach Deutschland kommen. Und er fürchtet, dass in dieser Diskussion Sachargumente nicht ankommen werden: „Die Stimmung könnte sich verändern.“
Etwa zur gleichen Zeit wie die Flüchtlingspartnerschaft der Kirche entstand auch der Verein „Willkommen in Boostedt“. Der Vorsitzende Franz Strompen erinnert sich genau an seine Worte, als die Boostedter in einer Einwohnerversammlung diskutiert haben, ob die Belastbarkeit des Dorfes bei 150, 300 oder 500 ihre Grenze erreicht. „Ich bin aufgestanden und habe gesagt: Lasst uns nicht über Zahlen reden, sondern über Menschen, die alles verloren haben.“
Volkswirt Strompen zählt inzwischen 35 Vereinsmitglieder und 80 Unterstützer. Die ehrenamtlichen Helfer, von denen keiner ein Wort arabisch spricht, geben an sechs Tagen in der Woche Deutschunterricht für Flüchtlinge. Zweimal pro Woche laden sie Mütter mit Kindern ein, um auch ihnen zu helfen, deutsch zu lernen. Außerdem hilft der Verein bei Hausaufgaben, baut gemeinsam mit den Kindern aus der Kaserne Drachen und sorgt für ein abwechslungsreiches Ferienprogramm.
„Ein Riesenprogramm“, sagt Strompen. „Wie erreichen pro Monat 350 Menschen, doch das ist immer noch zu wenig.“ Auch andere Organisationen im Dorf wie die freiwillige Feuerwehr, das Rote Kreuz und der Sportverein helfen. Sie organisieren Darttreffs und Fußballspiele, sammeln Kleidung und laden in eine Fahrradwerkstatt ein. Doch Strompen fürchtet, dass die Boostedter auf Dauer nicht weiter so engagiert für die Flüchtlinge arbeiten werden. „Ich weiß nicht, ob das auf Dauer funktioniert“, sagt er. Zwar ist er sich mit David einig, dass das Engagement für viele Menschen eine Bereicherung und Teil ihres Lebens geworden ist. „Aber wir sagen unseren Ehrenamtlern auch: Übernehmt euch nicht“, berichtet David.
Er fürchtet auch andere Gefahren: Gerüchte. „Vergewaltigungen, Ladendiebstähle – unglaublich, was da ins Kraut schießt.“ Strompen fragt: Was passiert, wenn die Deutschen das Gefühl bekommen, dass wegen der Flüchtlinge Einschränkungen oder Einbußen auf sie zukommen. „Ich habe Sorge, dass die Situation kippt, wenn Stimmungen produziert werden.“ Dass die Boostedter den Flüchtlingen nicht mehr helfen wollen, sondern sie als Bedrohung ansehen – das könnte passieren.
Auch Bürgermeister Hartmut König kennt die Geschichten, die er manchmal gar nicht so schnell korrigieren kann, wie sie sich verbreiten. Angeblich sei die Feuerwehr vor wenigen Wochen um eine Prüfung gebeten worden, ob die Kaserne auch 4000 Menschen aufnehmen könne. „Stimmt nicht“, sagt König. „Das ist nicht Aufgabe unserer Feuerwehr.“ Auch das Land betont, dass es bei maximal 2000 bleiben soll. Aber die Gerüchte sind zuweilen schneller als die Wahrheit.
„Die Anschläge in Paris werden auch Boostedt berühren“
„Man spürt eine Unsicherheit“, sagt König über die Stimmung im Dorf. Er sicher: „Die Anschläge in Paris werden auch Boostedt berühren.“
König spricht mit vielen kritischen Einwohnern wie Dietmar Kühl und der Initiative Boostedt. Doch er muss dabei manchmal feststellen, dass so mancher vermeintlich besorgte Bürger gar nicht aus dem Dorf kommt. Einige Rechte, die sich im Dorf blicken ließen, seien aus Dänemark angereist.
Dennoch kann sich König auf einen großen Konsens verlassen, zumindest im etablierten politischen Raum. Als die Landesregierung verkündete, nicht 500, sondern dramatisch mehr Flüchtlingen in der Kaserne einzuquartieren, rief er die Gemeindevertretung zu einer Sondersitzung zusammen. Die Politiker stimmten der Entscheidung aus Kiel zu – einstimmig.
Ziad hat andere Sorgen als die Boostedter. Seine Eltern leben noch in Damaskus. Das Geld reichte nicht, um mit der ganzen Familie Syrien zu verlassen. Jeder zweite Bewohner der Boostedter Unterkunft gehört zu seinen Landsleuten. Fast alle bangen um Angehörige und versuchen mit dem Handy, Neuigkeiten aus dem umkämpften Land zu erhalten. Die Menschen treffen sich, wo sie Wlan finden.
„Arabic-english Translator“ steht auf der Warnweste des Syrers
Fast alle anderen Flüchtlinge kommen aus Ländern, in den ebenfalls Gewalt regiert: Afghanistan, Iran, Eritrea und dem Irak. „Bei uns ist es friedlich“, sagt Magdalena Drywa, Sprecherin des Landesamtes für Ausländerangelegenheiten. Dass die Flüchtlinge hinter den Kasernenmauern nach Gewalt und Flucht zur Ruhe kommen können, führt sie auf die Arbeit des Deutschen Roten Kreuzes zurück, das engagiert mit 37 hauptamtliche Mitarbeitern die Menschen betreut.
Kinderbetreuung und Sprachkurse, Fahrradwerkstatt und Beratung, selbst die Beschilderung des Geländes in unterschiedlichen Sprachen gehört zu den Aufgaben der Rotkreuzler. „Wir schaffen das“, sagt Maria von Glischinski, Leiterin der DRK-Betreuung und nutzt bewusst die Worte der Kanzlerin. Immer mehr Ehrenamtler unterstützen das Rote Kreuz, sagt sie.
Auch Ziad hilft. „Arabic-english Translator“ steht auf der Warnweste, die er im Camp trägt. Er übersetzt zwischen Helfern und Flüchtlingen. Sein Handy hat er stets dabei. Ziad hat Angst – um seine Eltern und vor dem Terror. „Macht die Grenzen für unsere Familien nicht zu“, sagt er. „Wir haben dieselben Feinde.“