Norderstedt. Ärger über Sparmaßnahmen der Landesregierung: Der emotionale Auftritt von Polizeirevierleiter Jochen Drews vor der Norderstedter Politik
Dieses Bild auf der Leinwand im schlichten, holzgetäfelten Sitzungssaal 2 des Norderstedter Rathauses ist ein Schock. In den Gesichtern der Zuschauer versteinern die Gesichtszüge. Irgendjemand sagt leise und aufrichtig entsetzt: „Ihh!“
Die Kommunalpolitiker der Stadtvertretung und die Vertreter des Seniorenbeirates, Oberbürgermeister Hans-Joachim Grote und die Dezernenten Thomas Bosse und Anette Reinders, halten am Montagabend ihre Hauptausschuss-Sitzung ab, als sie unter dem Tagesordnungspunkt 5 „Kriminalitätslage 2014“ von der vollen Wucht der Norderstedter Polizeirealität erwischt werden.
Auf der Leinwand zu sehen ist ein über und über mit Blut bespritzter Raum. Unkenntlich gemacht, am Boden unter den Knien zweier Polizeibeamter liegend, ein Mann außer Rand und Band. „Keine Angst“, sagt Norderstedts Polizeirevierleiter Jochen Drews, „die Verletzungen hat sich der Herr selbst beigebracht.“
Blut, überall Blut. Und ein Familienvater in Uniform mittendrin
Der Herr ist ein Norderstedter, der irgendwann im vergangenen Jahr durchdrehte und seinem „Nachbar ans Leder wollte“, wie Drews sagt. „Er durchschlug eine dreifach verglaste Scheibe mit bloßer Hand.“ Als die Beamten am Tatort eintrafen, wartete der Täter mit einer Glasscherbe in der Hand auf die Beamten. „Er rief: Kommt schon, ich mach euch fertig!“
Nun erreicht Drews den Punkt, auf den er hinaus wollte: „Der Kollege, der da auf dem Mann kniet, das ist ein zweifacher Familienvater. Der konnte einige Tage lang nach dem Einsatz weder seine Kinder umarmen noch seine Frau“, sagt Drews. Abstand halten zu den Lieben, bis endlich feststeht, dass er sich durch den Kontakt mit dem Blut des polizeibekannten, drogenabhängigen Mannes nicht Hepatitis C oder andere schwere Krankheiten eingehandelt hat. „Nur zur Einordnung: Dieser Einsatz ist nichts Ungewöhnliches in unserem Job. Das ist unser Alltag in dieser Stadt.“
Wenn Innenminister Stefan Studt nun also die Umstrukturierung und den Stellenabbau bei der Polizei in Schleswig-Holstein betreibt und gesagt wird, alle Verwaltungsbereiche müssen sparen, die Finanzbeamten ebenso wie die Polizei, dann kommt das bei Drews und seinen Kollegen, die regelmäßig auf blutenden Drogenabhängigen knien nicht so gut an. „Denn man kann uns eben nicht mit Finanzbeamten vergleichen.“ Drews nutzt die Sitzung des Hauptausschusses und die Präsentation der Kriminalitätsstatistik (siehe Text links) für eine emotionale Standortbestimmung. Er will den Politikern der Stadt und vor allem denen in Kiel signalisieren, dass die Belastungsgrenzen der Beamten erreicht und überschritten sind.
Ausgefeilte Verkehrsanalysen sind in Norderstedt nicht mehr drin
„Wenn ich ein gewisses Niveau in der Polizeiarbeit gewährleisten soll, dann muss ich Personal abziehen, das mir dann bei der Ermittlung und im Streifeneinsatz fehlt.“ Doch das erklärte Ziel des Landes ist: Mehr Mützen auf die Straße. Drews muss also intern definieren, welche Aufgaben das Polizeirevier Norderstedt noch leisten kann und welche nicht. Zum Beispiel: der seit Jahren als Verkehrsexperte der Norderstedter Polizei bekannte Beamte Kai Hädicke-Schories. Mit seinen ausgefeilten Analysen zur Verkehrslage in der Stadt hat er viel zur Steigerung der Verkehrssicherheit in Norderstedt beigetragen und der Politik aufgezeigt, wo sie dringend handeln muss. „In dieser Tiefe werden wir diese Aufgabe in Zukunft nicht mehr leisten können. Fünf Kollegen kümmerten sich in der Polizeidirektion bislang nur um den Verkehr. Das wird eingeschmolzen auf eine Stelle“, sagt Drews.
Den Kollegen auf der Straße, denen er nur mit Mühe und Not das ihnen zustehende eine freie Wochenende im Monat im Dienstplan freischaufelt, könnte er ohnehin nicht mehr erklären, das mit solchen Dienstleistungen Personal gebunden wird.
Drews fuhr fort mit dem drastischen Ausflug in den hartgekochten Alltag der Norderstedter Polizei. Die Politiker erfuhren von Beamten, die Suizide miterleben, die bei halsbrecherischen Verfolgungsjagden bei Unfällen zum Teil schwer verletzt werden – alles Geschichten aus dem Einsatzgeschehen des vergangenen Jahres. Allein 2015 habe das Revier schon elf durch Fremdeinwirkung verletzte Beamte, zwei davon länger als drei Tage dienstunfähig. Manche, die besonders Schlimmes erleben mussten, sind bis zu einem Jahr weg vom Fenster.
Dazu kommen die Beschimpfungen durch Bürger, die Drews dem Ausschuss in ihrer ganzen nicht jugendfreien, ordinären Widerlichkeit vorstellte. „Auszüge aus Einsatzberichten, wie ich sie jeden Tag auf dem Tisch habe. Das ist der ganz normale Umgangston, den meine Beamten im Alltag erleben.“
Die Politik möchte helfen, und spürt gleichzeitig ihre völlig Ohnmacht
Auf der Leinwand erscheinen die Zitate: „Was willst du, du Scheißbulle?“; „Ich fick’ deine Frau und deine Kinder!“; „Scheiß Nazi!“; „Ich weiß, wo du wohnst! Ich mach dich und deine Familie kalt!“ Es entsteht eine Pause des Schweigens im Saal. Dann sagt Drews: „Wer sich für den Beruf des Polizisten entscheidet, weiß was ihn erwartet. Und er weiß auch, dass der Job nicht mit dem eines Bäckergesellen oder eben dem eines Finanzbeamten zu vergleichen ist.“
Kurz lassen die Kommunalpolitiker den Vortrag sacken. Als erster findet der FDP-Stadtvertreter Klaus-Peter Schroeder Worte: „Wie können wir als Politik Ihnen den jetzt helfen?“ Drews zuckt mit den Schultern. „Erzählen Sie der Politik in Kiel, was Sie heute hier gehört haben. Ob die Ihnen aber zuhören?“ Der Ausschussvorsitzende Gert Leiteritz von der CDU hegt starke Zweifel, ob das der Fall ist. „Ich fürchte, wir können Ihnen bei der Bewältigung der Situation nur alle Gute wünschen. Mehr nicht.“