Nur zwei Wochen vor der Kapitulation Hamburgs wurden 71 Frauen und Männer aus der Haft in Fuhlsbüttel in das KZ gefahren.

Am späten Nachmittag des 20. April 1945, einem sonnigen Freitag, verließen zwei Lastwagen mit 58 Männern und 13 Frauen das Polizeigefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel. Es waren sogenannte Schutzhäftlinge, Menschen, die ohne richterliche Anweisung oder ein Gerichtsverfahren von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) inhaftiert worden waren. Da das Gefängnis – im Volksmund war es das Kolafu, das Konzentrationslager Fuhlsbüttel – seit dem 1. April nach und nach evakuiert wurde, damit den heranrückenden Briten (sie hatten bereits Lüneburg eingenommen) keiner und keine der Gefangenen, kein Zeuge der erlebten Untaten in die Hände fiele, konnten die 71 Menschen auf den Lastwagen annehmen, auch sie würden nun aus der Reichweite der Alliierten gebracht und seien bald vielleicht in Freiheit. Vor allem die Frauen waren voller Zuversicht, ihre Familien bald wiederzusehen. Sie zeigten sich Fotos ihrer Lieben, die sie durch die Zeit der Gestapo-Haft gerettet hatten.

Doch die Lastwagen steuerten nicht nach Norden in Richtung Kiel, wohin die vorangegangenen Evakuierungstransporte und Fußkolonnen gezogen waren, sondern verließen die Stadt in südöstlicher Richtung, passierten Bergedorf, fuhren tiefer in die Vierlande und kamen schließlich, es war Abend geworden, vor dem Haupttor des Konzentrationslagers Neuengamme zum Stehen. Das Ziel der Fahrt war nahezu erreicht. Denn hier, im Arrestbunker des Lagers, sollten die 71 Menschen getötet werden.

Auf Grundlage eines Befehls des Reichsführers SS (RFSS), Chefs der Deutschen Polizei und Reichsministers des Inneren, Heinrich Himmler, von Mitte 1944 wurden bei der Räumung Fuhlsbüttels die Häftlinge in drei Gruppen eingeteilt: Gruppe eins („gebesserte, nicht mehr gefährliche Personen“) war zu entlassen; Gruppe zwei („Personen mit Aussicht auf Besserung“) sollte in das Arbeitserziehungslager Nordmark (Kiel-Hassee) verlegt werden. Ein kleiner Teil dieser Gefangenen, Schwerkranke, wurde mit Lastwagen dorthin gebracht, der Großteil jedoch, rund 800 Personen, musste die gut 80 Kilometer im Fußmarsch zurücklegen. Wer vor Erschöpfung zusammenbrach, das Marschtempo nicht mithielt oder zu fliehen versuchte, wurde erschossen.

In die Gruppe drei kamen sogenannte „nicht tragbare Elemente/unverbesserliche Feinde des Nationalsozialismus“. Sie waren unbedingt zu töten. Zunächst hatten die verschiedenen Dezernate und Referate der Gestapo Hamburg eine vorläufige Liste von insgesamt 100 Personen zusammengestellt. Nach weiteren Präzisierungen wurden schließlich 71 Todeskandidaten bestimmt. Beteiligt waren hierbei, neben einer Reihe anderer Beamter, besonders Kriminalkommissar Adolf Bokelmann (Leiter des Dezernats II A, „Kommunismus und Marxismus“) und sein Mitarbeiter, Kriminalsekretär Henry Helms („Sachgebiet II A1 Kommunismus“). Sie lieferten Teil eins der Liste. Teil zwei kam aus dem Referat II E2 („Betriebssabotage, Arbeitsvernachlässigung“, auch als „Ausländerreferat“ bezeichnet).

Der Leiter des Referats, Kriminalkommissar Albert Schweim, überwachte mit seinen zeitweilig 45 offiziellen Mitarbeitern, einer Schar von Spitzeln und mit erbarmungsloser Härte die Tausende ausländischer Männer und Frauen in den Hamburger Zwangsarbeiterlagern. Bei kleinsten Verstößen gegen angebliche Vorschriften ging er mit äußerster Brutalität vor. Fünf Zwangsarbeiterinnen aus der Sowjetunion zum Beispiel wurden am 11. November 1943 erschossen, weil sie verdorbenes Essen verweigert und die Arbeit niedergelegt hatten. Die Zwangsarbeiterinnen Anna Jakudic und Sinaida Strelzowa kamen auf die Liquidationsliste, da sie an ihrem Arbeitsplatz auf der Stülcken-Werft beziehungsweise in einem Wandsbeker Betrieb anderen sowjetischen Gefangenen Nahrungsmittel zugesteckt hatten. Ein Großteil der Namen wurde von Schweims Referat auf die Liste gesetzt.

Diese Liste existiert nicht mehr. Sie wurde, wie nahezu alle diskriminierenden Dokumente der Gestapo Hamburg in den letzten Tagen der NS-Herrschaft vernichtet. Durch Aussagen von Zeugen überliefert sind die Namen der 13 Frauen und von 20 Männern. Da die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen aber nur in Ausnahmefällen Kontakt zu Deutschen hatten, sind die Namen der meisten von ihnen unbekannt. Bei den ermordeten 58 Männern sind das 38 Personen. Sie sind wie vergessen.

Das Tor des KZ Neuengamme blieb zunächst verschlossen. Standortkommandant Anton Thumann weigerte sich, die Lastautos mit den Gefangenen einzulassen. Er berief sich auf den Erlass Himmlers, nach dem beim Herannahen des Feindes das Lager nicht nur zu räumen sei, sondern auch keine Häftlinge mehr aufgenommen werden dürften. In der Tat hatte die Lagerleitung am Tag zuvor damit begonnen, das KZ zu evakuieren. Noch in der Nacht brachten die ersten der sogenannten weißen Busse des Dänischen und Schwedischen Roten Kreuzes die rund 4000 dänischen und norwegischen Häftlinge, die in Neuengamme aus anderen Lagern zusammengezogen worden waren, aus dem Lager in die Freiheit. In derselben Nacht des 20. zum 21. April entledigte sich die KZ-Führung zugleich anderer, für sie höchst gefährlicher Zeugen: 20 jüdische Kinder, an denen im Lager medizinische Experimente vorgenommen worden und die davon gezeichnet waren, ihre vier Betreuer und 24 russische Kriegsgefangene wurden in die Schule am Bullenhuser Damm in Hamburg geschafft und dort ermordet, ihre Leichen wurden beseitigt.

Die Nazis warteten mit ihrer Mordaktion, bis das Lager weitgehend evakuiert war

Der Leiter des Transports, SS-Hauptscharführer Hans Stange, bestand auf der Ausführung seines Auftrags, die 71 Häftlinge im Lager Neuengamme abzuliefern. Das war sein Befehl aus der Gestapozentrale. Zudem sollten die Gefangenen ja auch nicht aufgenommen, sondern liquidiert werden. Es galt außerdem seit Längerem die Regelung, und sie war auch in Hamburg gängige Praxis: Hinrichtungen ohne Gerichtsurteile hatten im nächstgelegenen Konzentrationslager stattzufinden, und das war Neuengamme. Nach einigen Telefonaten zwischen dem Lagerkommandanten SS-Obersturmbannführer Max Pauly und dem Höheren Polizei- und SS-Führer (HPSSF) des Bereichs X Hamburg, Graf Bassewitz-Behr, der in der Region praktisch die Befugnisse Himmlers ausübte, bekam der Schutzhaftlagerführer und SS-Obersturmführer Thumann den Befehl, das Tor zu öffnen. Die Lastwagen fuhren auf den Appellplatz.

Männer und Frauen wurden getrennt. Die Frauen kamen in das Lagergefängnis, den sogenannten Arrestbunker, am hinteren Ende des Lagers, die Männer in Baracke Nummer 20, die zusätzlich umzäunte und von einer Postenkette bewachte Baracke der Strafkompanie, nicht weit vom Bunker entfernt. Hier blieben die Gefangenen während der nächsten beiden Nächte und Tage, ohne dass etwas geschah. Ein Grund hierfür ist sicherlich, dass die Evakuierung der Skandinavier noch andauerte und die Lagerleitung es vorzog, mit der Mordaktion abzuwarten, bis gerade diese eventuellen Zeugen abgezogen waren, vor allem die Vertreter des Roten Kreuzes, die in größerer Zahl vor Ort waren.

Anderen Häftlingen des Lagers, die die Ankunft der 71 beobachtet hatten, war nach all ihrer Erfahrung im KZ sofort klar, dass etwas Schreckliches bevorstand. Das geht aus den Zeugenaussagen in den britischen Militärgerichtsprozessen nach dem Krieg (1946/47) in Hamburg hervor. Einigen der Häftlinge gelang es sogar, in Kontakt zu den Frauen im Bunker zu kommen und etwas zu erfahren – wie ein paar Namen und die Nationalität einiger der Gefangenen. Die Aussagen stimmen darin überein, dass die Frauen nicht wussten, weswegen sie nach Neuengamme gebracht worden waren, und schon gar nicht, was ihnen bevorstand.

Das ist auch aus heutiger Sicht nicht verwunderlich. Seit den ersten Recherchen nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes und bis heute taucht immer wieder die Frage auf, was all diese Frauen im Bunker und die Männer im Block 20 eigentlich getan hatten, dass die Gestapo Hamburg beschloss, sie kurz vor ihrem eigenen Untergang noch zu vernichten. Einige der namentlich bekannten Opfer auf der Liste Bokelmann/Helms standen in engem Kontakt zu Hamburger Widerstandsorganisationen wie der Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe, der Gruppe KDF (Kampf dem Faschismus) und dem Hamburger Zweig der Weißen Rose (zum Beispiel Ernst Fiering, Karel Racman, Franz Reetz, Paul Zinke), doch die meisten waren keine Aktivisten des Widerstands, sondern eher für das System ungefährliche Oppositionelle.

Die wichtigsten Gründe des rabiaten Vorgehens der Gestapo, vor allem des Referats II A1 von Helms dürften völlig unpolitische sein: Es ging darum, noch rasch Zeugen von Straftaten der Beamten und ihrer Helfer zu beseitigen, von der Ausplünderung durchsuchter Wohnungen (wie im Falle von Elisabeth Rosenkranz) über den Diebstahl beschlagnahmter Gegenstände bis hin zu Erpressungen und zu Folterungen bei Verhören.

Bei anderen scheint allein die Bekanntschaft mit einem Gestapo-Opfer oder die Familienzugehörigkeit ausgereicht zu haben, so im Fall von Rudolf Ladewig senior, einem Architekten, der Beziehungen zur Gruppe KDF und zum Nationalkomitee Freies Deutschland hatte. Mit ihm wurden außer seiner Lebensgefährtin Elisabeth Rosenkranz sein Sohn Rudolf und seine Tochter Annemarie festgenommen und dann mit auf die Liste gesetzt. Von dem Ehepaar Dohme ist nicht mehr bekannt, als dass es dem NS-Regime distanziert gegenüberstand und Senta Dohme nach den Begriffen der Nazis „Halbjüdin“ war. Die Schauspielerin Hanne Mertens, die am Thalia Theater engagiert war, hatte auf einer fröhlichen Privatfeier das Lied „Es geht alles vorüber“ gesungen, das auf das Ende von Adolf Hitler und seine Partei anspielte, und einige lockere Sprüche losgelassen. Es gab seinerzeit das Gerücht, dass sie private Beziehungen zu Graf Bas­sewitz-Behr, dem Höheren Polizei- und SS-Führer, gehabt hatte und ihm für die Zeit nach dem Krieg hätte lästig werden können.

Ein Kommunist, der „umgedreht“worden war, verdingte sich als Verräter

Zugleich ging es bei der Zusammenstellung der Liste etwas wirr zu: Das Ehepaar August und Erna Behling beispielsweise wurde wegen „Abhörens feindlicher Sender gemeinsam mit anderen und Verbreitung der Nachrichten“ verhaftet und in Fuhlsbüttel eingeliefert. Obwohl sich beide mit demselben Bekanntenkreis trafen und in ihren Aktivitäten nicht unterschieden, wurde er bei der Räumung Fuhlsbüttels auf den Fußmarsch nach Kiel-Hassee geschickt, während Erna auf die Todesliste kam Oder Carl Schultz, eine leitende Person bei KDF, wurde mit den anderen der Gruppe verhaftet und in Fuhlsbüttel eingesperrt. Seine Genossen wurden auf die Liste gesetzt und ermordet, er selbst kam mit dem Fußmarsch davon.

Und da waren die Zuträger, die V-Leute der Verfolgungsbeamten, die sich Sorgen um ihre Zukunft nach dem Kriege machen mussten. Einige von ihnen hatten sich, getarnt als angebliche Widerstandskämpfer, in die Kreise der NS-Gegner geschlichen, dort Vertrauen erworben und der Gestapo die Opfer geliefert. Ihre Rolle konnte kaum unentdeckt bleiben, doch wenn sie durchschaut waren, war es oft schon zu spät. Ein Beispiel ist das Schicksal von Erika Etter. Ihr Mann Werner war seit März 1944 wegen kommunistischer Widerstandstätigkeit in Haft, er war im Januar 1945 vom Volksgerichtshof in Berlin zum Tode verurteilt und im Februar 1945 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet worden, ohne dass Erika Etter davon erfuhr. Verhaftet wurden dann auch ihre Eltern, ihr Bruder und dessen Verlobte.

Erika Etter hoffte, mit einem persönlichen Besuch im Büro von Helms, der die Verhaftungen geleitet hatte, etwas für ihre Angehörigen erreichen zu können, und traf dabei völlig unerwartet mit einem altvertrauten Bekannten zusammen, dem angeblichen Antifaschisten und eifrigen Mitarbeiter des Zirkels um Werner Etter, mit Herbert Werner Lübbers. Erika Etter wurde sofort verhaftet, „da es nicht bekannt werden sollte, dass ich für die Gestapo arbeitete“ (eidesstattliche Aussage Lübbers vor dem britischen War Crimes Investigation Unit BAOR, Hamburg, 16.12.1946). Erika Etter starb in Neuengamme im Bunker.

Ein besonders grausiges Spiel trieb ein anderer, äußerst aktiver, einfallsreicher und durchtriebener Agent, eine schreckliche und letztlich vielleicht sogar tragische Gestalt: Alfons Pannek. Er war 1924 in den Kommunistischen Jugendverband (KJVD) eingetreten, 1930 dann in die KPD. Er hatte in den Reihen der 11. Internationalen Brigade am spanischen Bürgerkrieg teilgenommen und 1938/39 in Prag eine wichtige Rolle im „Salda-Komitee“ ausgeübt, einer Hilfsorganisation der KP für deutsche Flüchtlinge. Er wurde von der Gestapo gefasst, gefoltert, unter Druck gesetzt und, nach einem misslungenen Selbstmordversuch, 1940 schließlich umgedreht.

Getarnt als Mitarbeiter einer Leihbücherei mit ambulantem Lieferdienst und mit angeblich mancher verbotenen Rarität in seinem Geheimangebot und bei seinem Ansehen als alter Klassenkämpfer machte er sich an die Genossen von früher heran, hielt ihnen aufrührerische Reden, schnüffelte sie aus und kam so auf weitere Spuren. Darüber hinaus gelang es ihm sogar, sie zu verbotenen Aktionen zu animieren, um seine Erfolgsbilanz bei der Gestapo zu steigern. Im Laufe der Zeit baute er sich einen Stab von weiteren Spitzeln auf (zu denen auch der oben genannte Lübbers gehörte) und richtete in aller Öffentlichkeit, im Wendloher Weg 13 in Eppendorf, ein Büro ein, seine Nachrichtenzentrale. Sie firmierte ganz offiziell als „Übersetzungsbüro“.

Zeitweilig war Alfons Pannek der beste inoffizielle Mitarbeiter der Abteilung Bokelmann, speziell des Kriminalsekretärs Helms, und unersetzlich beim Aufrollen und Vernichten des Hamburger Widerstands. Eine Reihe der Personen, die auf die Liquidationsliste kamen, waren von Pannek besorgt worden. Er wirkte dann auch entscheidend mit bei ihrer Zusammenstellung.

Die Mordaktion begann in der Nacht des 22. April, einem Sonntag, gegen 22 Uhr. Sie ging die ganze Nacht hindurch und in der nächsten Nacht weiter. Die Zeugen – Täter, Hilfspersonal, Beobachter – weichen in ihren Aussagen in den Gerichtsverfahren nach dem Kriege zwar verschiedentlich voneinander ab, doch in wesentlichen Punkten stimmen die Angaben überein und ergänzen einander.

Als Erstes wurden die Frauen getötet. Sie mussten sich in den Zellen entkleiden, dann wurden sie in zwei Gruppen zu je sechs in den schmalen Gang des Bunkers geholt. Einer nach der anderen wurde der Hals in die Schlinge gelegt, die Seile wurden über die freiliegenden Balken an der Decke geworfen, dann zogen die SS-Leute die Frauen einige Zentimeter hoch und befestigten die Seile an Haken, die für solche Zwecke an der Wand angebracht waren. Die Frauen wurden also stranguliert. Das bedeutete einen schweren Todeskampf. Nach etwa zehn Minuten wurden sie, obwohl sie vielleicht noch nicht tot waren, von KZ-Häftlingen abgenommen, auf einen Pritschenwagen geladen, zum Krematorium gekarrt und aufgeschichtet. Währenddessen wurden die nächsten sechs erhängt.

Mehrere Männer wehrten sichverzweifelt mit Fäusten und Brettern

Gegen Mitternacht wurden aus Block 20 die ersten zehn bis zwölf Männer, schwer bewacht von etwa ebenso vielen SS-Leuten, zum Bunker gebracht und zunächst in die Zellen gesperrt. Manche Zeugenaussage weist darauf hin, dass es Menschen aus Polen und der Sowjetunion waren. Die SS-Leute erhängten im eingeübten Verfahren die ersten drei oder vier der Gefangenen und gedachten, so weiterzumachen. Als aber Straflagerführer Thumann, der die Aktion leitete, die nächste Zellentür öffnete, bekam er völlig unerwartet einen kräftigen Faustschlag ins Gesicht, sodass er zurücktaumelte. Schnell rissen die Gehilfen die Tür wieder zu. Die Mörder stoben aus dem Bunker und schlossen von außen ab. Eilends ließ Thumann eine Leiter bringen und versuchte, von außerhalb des Gebäudes mit Pistolenschüssen durch die mittlere der Zellenluken den Widerstand zu erledigen. Er hatte seine Hand kaum durch die Öffnung, traf sie ein schwerer Schlag mit einem Brett, das sich die Gefangenen aus der Zellenpritsche herausgebrochen hatten. Thumanns Pistole fiel in die Zelle.

Nun wurden Handgranaten und Maschinenpistolen herbeigeschafft. Einige der SS-Männer griffen sich die Schnellfeuerwaffen, Thumann und andere zündeten die Handgranaten und warfen sie durch die Luken, dann stürmte der Trupp die Zellen, deren Wände durch die Explosionen zum Teil eingestürzt waren, und schoss nieder, was noch nach Leben aussah. Zwischen Leichen und Trümmern entdeckten SS-Leute eine Frau, die noch lebte. Einer zerschlug ihr den Schädel mit einem der Trümmersteine, der andere feuerte eine Salve in sie hinein.

Aber warum war hier eine Frau? Sie war eine der 13 Frauen, hatte sich während der Mordaktion unter einer Pritsche verkrochen und war übersehen worden. Welche der Frauen sie war, ist ungeklärt.

Nach ihrer Blut- und Gewaltorgie hatten die Mörder erst einmal genug für diese Nacht. Sie gingen in die Badebaracke, die wenige Meter entfernt war, und duschten sich, während sie über das Erlebte schwadronierten. Häftlinge bekamen den Befehl, die niedergemachten Männer zu entkleiden, Leichen und Trümmer wegzuräumen, mit dem Wasserschlauch alles sauber zu spülen und bis zum nächsten Abend die eingestürzten Zellenwände wieder hochzumauern.

Ohne weiteren Widerstand zu erfahren, zog das Liquidationskommando in der folgenden Nacht, also vom 23. auf den 24. April, sein Werk durch. In mehreren Gruppen wurden die Opfer in den Bunker gebracht, dann jeder einzeln aus der Zelle geholt, mit dem Gesicht zu der schmalen Wand im Gang gedreht, von zwei SS-Männern festgehalten und von Thumann mit Schuss in den Hinterkopf liquidiert.

Bevor die Nächsten herangeschafft wurden, schleppten Häftlinge wie in der Nacht zuvor die entkleideten Toten nach draußen auf den Pritschenwagen und schoben sie zum Krematorium. Dort stapelten sich die Leichen. Der Badekalfaktor musste den Gang des Bunkers wieder und wieder von Blut frei spritzen, damit die nächste Gruppe es reinlich vorfand.

So ging es von etwa 22 Uhr die Nacht hindurch bis gegen 4 Uhr, dann waren alle 71 „untragbaren Elemente“ ausgelöscht. Nach zwei Nächten Mord- und Blutaktion in Folge bekamen die SS-Männer in früher Morgenstunde nun den Lohn für die vollbrachte Tat, die Sonderration an Schnaps und Zigaretten. Die Leichen wurden in den nächsten Tagen im Krematorium verbrannt, ihre Asche irgendwo verstreut.

Das Massaker war das letzte im KZ Neuengamme. Knapp zwei Wochen später, am Abend des 2. Mai, erreichten britische Soldaten das Lager. Sie fanden es weitgehend verlassen vor – und so aufgeräumt und durchgeputzt, als sei hier nie etwas Böses geschehen.

Zu Gerichtsverfahren gegen Organisatoren und Ausführende der Verbrechen von SS, Staatspolizei und ihren Helfern kam es in Hamburg von 1946 an, zunächst unter dem Militärgericht der Britischen Rheinarmee. Das Gericht verfolgte gemäß dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, jedoch nur dann, wenn sie an Angehörigen der alliierten Staaten begangen worden waren. Die Verfahren fanden im Curiohaus an der Rothenbaumchaussee statt, daher der Name „Curiohaus-Prozesse“. Hervorzuheben sind in unserem Zusammenhang das sogenannte Neuengamme-Verfahren (vom 18. März bis zum 3. Mai 1946, gegen Max Pauly, den Lagerkommandanten, und 13 andere Angeklagte) und die „Fuhlsbüttel-Prozesse“ (7. August bis 3. November 1947, gegen die Verantwortlichen des Polizeigefängnisses sowie den HPSSF in Hamburg, Graf Bas­sewitz-Behr). Es folgten Verfahren vor dem Schwurgericht Hamburg, unter anderem gegen die Beamten des Gestapodezernats II A, „Bekämpfung des Marxismus und Kommunismus“, und ihre Spitzel („Helms-Prozess“).

Die NS-Akteure im Lager wurden allesamt zum Tode verurteilt

In allen Verfahren agierten die Angeklagten nach der gleichen Masche: Sie konnten sich nicht mehr erinnern, schoben die Untaten Mitangeklagten zu, leugneten die Verantwortung und beriefen sich auf den „Befehl von höherer Stelle“. Da zudem die Dokumente von Gestapo und KZ Neuengamme nahezu restlos verbrannt worden waren, kam mancher glimpflich davon. Dem Obersten Polizei- und SS-Führer Graf Bassewitz-Behr, der mit Sicherheit zumindest die Liquidationsliste der Abteilung Bokelmann in Gang gesetzt und zum Schluss unterzeichnet hatte, war die Verantwortung für die Liquidation der 71 Menschen letztlich nicht nachzuweisen. Das Urteil vom 28. August 1947 lautete: Freispruch. (Die Briten lieferten ihn allerdings an die Sowjetunion aus, da er zeitweilig dort eingesetzt gewesen war. Er wurde zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, in ein Lager in Ostsibirien gesteckt und starb dort 1949.)

In dem genannten Schwurgerichtsverfahren erhielt der Spitzel Alfons Pannek die höchste Strafe von allen: zwölf Jahre Zuchthaus. Sein Führungs-Mann in der Gestapo, Henry Helms, ein besessener und gefürchteter Verfolger jeder Widerstandsregung, wurde für all seine Verbrechen mit neun Jahren Zuchthaus bestraft. Adolf Bokelmann, der Leiter der Dienststelle, bekam eine Gefängnisstrafe von vier Jahren. Alle diese Strafen wurden bald reduziert oder gar annulliert. Panneks Urteil wurde aus formalen Gründen nicht rechtskräftig, das weitere Verfahren vom Landgericht Hamburg 1951 eingestellt, da Pannek nicht gegen die deutschen Gesetze verstoßen habe. Helms wurde im November 1953 vorzeitig entlassen. Bokelmann kam bereits im April 1950 vorzeitig frei.

Die geringste Chance, sich herauszuwinden, hatten der Lagerkommandant von Neuengamme, Max Pauly, und die Mörder der 71 Frauen und Männer. Ihre Taten waren denn doch zu offensichtlich für das britische Militärgericht. Wegen Tötung und Misshandlung von Angehörigen der Alliierten – nicht von deutschen Opfern! – verhängte das Gericht am 3.5.1946 die Todesurteile über Pauly und, unter Berücksichtigung ihrer weiteren Verbrechen, über die Akteure im Bunker: Straflagerleiter SS-Obersturmführer Anton Thumann, Rapportführer SS-Unterscharführer Willi Dreimann, die Blockführer/SS-Unterführer Heinrich Ruge, Willi Warncke, Johann Reese, Adolf Speck, Andreas Brems, Wilhelm Bahr sowie Standortarzt SS-Obersturmführer Dr. Alfred Trzebinski. Sie wurden am 7.10.1946 im Zuchthaus Hameln erhängt.