Norderstedt . Tesa, Stollwerck, Casio: Die Stadt am Rand Hamburgs lockt mit guter Lage, günstigen Flächen, unbürokratischer Hilfe. Und wird dadurch reich.

Ganz im Süden Schleswig-Holsteins ist die Stadt, die sich still und heimlich zur Wirtschaftsmacht im Norden entwickelt hat: Norderstedt ist ein ökonomisches Erfolgsmodell. Die Zahl der Unternehmen in der Stadt, die 1970 während der Gebietsreform in Schleswig-Holstein aus vier Dörfern gebildet wurde, steigt von Jahr zu Jahr, die Gewerbesteuer sprudelt. Tesa hier anzusiedeln, war der vorerst letzte und größte Coup. Das traditionsreiche Unternehmen verlegt seinen Firmensitz von Hamburg nach Norderstedt und bringt 800 Mitarbeiter mit.

Allein in den vergangenen zehn Jahre sind die Steuereinnahmen von gut 51 auf rund 70 Millionen gestiegen – damit nimmt Norderstedt deutlich mehr ein als beispielsweise Neumünster und Flensburg, Städte mit mehr Einwohnern. Auch der wachsende Gemeindeanteil an der Einkommensteuer belegt, was Oberbürgermeister Hans-Joachim Grote so formuliert: „Uns geht es gut.“ Die Norderstedter verdienen überdurchschnittlich viel, die Kaufkraft liegt mit einem Index von 118,3 deutlich über dem Bundesschnitt von 100. Doch die wirtschaftliche und finanzielle Stärke hat auch Schattenseiten: So musste Norderstedt bei der Finanzreform in Schleswig-Holstein am meisten zahlen. 1,5 Millionen Euro mehr pro Jahr gibt die Stadt in den Finanzausgleich, mehr als jede andere Kommune im Norden.

Immer wieder gelingt es den Wirtschaftsförderern der städtischen Entwicklungsgesellschaft und der Verwaltung mit Oberbürgermeister Hans-Joachim Grote, renommierte Firmen nach Norderstedt zu holen. Vor Tesa war es der traditionsreiche Schoko-Hersteller Stollwerck. Das Unternehmen gibt den Standort Köln auf und konzentriert die geschäftlichen Aktivitäten in Norderstedt, wo die Mitarbeiter schon seit Jahren Pralinen produzieren.

Die beiden namhaften Neuen in der Norderstedter Gewerbelandschaft bestätigen die Attraktivität des Standortes, der aber spätestens südlich der Elbe an Identität einbüßt und als Teil von Hamburg wahrgenommen wird. Das verwundert nicht, haben doch die Norderstedter mit 040 die gleiche Vorwahl wie die Metropole. Norderstedt klebt als Appendix direkt an Hamburg, die gemeinsame Grenze ist 18 Kilometer lang und verläuft beispielsweise mitten auf der Straße Am Ochsenzoll.

Der große Startvorteil von Norderstedt: Das Bauland war recht günstig

Norderstedt profitiert von der Strahlkraft Hamburgs und von der Nähe zum Flughafen Fuhlsbüttel, der von Norderstedt-Mitte aus in gut zehn Minuten zu erreichen ist, zum Hafen und zur Autobahn 7. „Die Lagegunst ist ein wichtiger Standortvorteil“, sagt Oberbürgermeister Grote. Hinzu kommt ein Pluspunkt, den ein Stadtstaat nicht bieten kann: jede Menge Fläche. 400 Hektar bieten die sechs alten Gewerbegebiete, nochmals rund 100 die beiden neuen, der Nordport, der im Süden fast an Hamburg grenzt, und der Frederiks­park ganz im Norden.

Fläche und Lage haben renommierte Hamburger Unternehmen schon in den 50er- und 60-er-Jahren dazu gebracht, ins heutige Norderstedt zu wechseln, weil sie dort expandieren konnten. Der internationale Gabelstaplerhersteller Jungheinrich, der in Norderstedt sein größtes Werk mit rund 1100 Beschäftigten betreibt, steht dafür, das Hummel Küchenwerk oder Schülke & Mayr, ein Unternehmen, das international führend auf den Gebieten der Hygiene und Infektionsprävention ist. Und es gab einen weiteren Lockstoff: Norderstedt kam bis in die 90er-Jahre in den Genuss der Zonenrandförderung.

Mit der Ansiedlung expansionswilliger Betriebe gewannen schon die vier Ursprungsgemeinden an wirtschaftlicher Potenz. Und gleich nach der Stadtgründung 1970 wandelte sich das eher zufällige Wachstum in einen offiziellen Auftrag der Landesplanung: Arbeitsplätze schaffen und die enorme Zahl der Berufspendler reduzieren, lautete der Befehl aus Kiel. Der große Vorteil des damaligen Baustadtrats Jürgen Meßfeldt: Das Bauland war mit Preisen zwischen 40 und 70 Mark pro Quadratmeter günstig, das Klima wirtschaftsfreundlich: „Während in manchen Orten Gewinne als Profit verpönt waren und Sozialinvestitionen Vorrang vor Wirtschaftsinvestitionen hatten, haben wir uns immer für die Ansiedlung von Firmen stark gemacht“, hat Meßfeldt mal gesagt.

Die Wirtschaftskrisen machten auch vor Norderstedt nicht Halt. Doch als im Jahr 2000 die Spekulationsblase an den Börsen platzte, handelten Oberbürgermeister, Politiker, Vertreter der Wirtschaft und Wirtschaftsförderer antizyklisch: Sie beschlossen, ein neues Gewerbegebiet zu entwickeln, den heutigen Nordport direkt am Flughafen. „Dafür mussten wir uns die Frage gefallen lassen, ob wir noch bei Verstand seien, in einer solchen Zeit Geld in die Hand zu nehmen“, sagt Grote. Als dann die Banken- und Finanzkrise ab 2007 das Gewerbesteueraufkommen fast halbierte, ergriffen Grote und Mitstreiter wieder die Initiative und legten den Grundstein für das Wohn- und Gewerbegebiet Frederikspark.

Erfolgsprojekt wilhelm.tel

Vor zwölf Jahren startete die Stadt zudem ein Projekt, das damals umstritten war, sich aber als goldrichtig erweist: wilhelm.tel, der städtische Kommunikationsanbieter, der bei den Stadtwerken angesiedelt ist. Auslöser war die Liberalisierung des Energiemarktes. Die Stadtwerke verloren ihr Monopol als Strom- und Gasanbieter, der damalige Werkleiter Volker Hallwachs suchte neue Beschäftigungsfelder, um Einnahmeausfälle zu kompensieren und die Mitarbeiter weiter beschäftigen zu können.

Das Konzept ging nicht nur auf, wilhelm.tel wurde zum Exportschlager. In Norderstedt versorgt das Kommunikationsunternehmen rund 33.000 Haushalte mit Kabel-TV, das ist fast eine Komplett-Versorgung. Und auch die Nachbarn wollten haben, was den Norderstedtern gefällt. In Hamburg heißt der Kooperationspartner willy.tel, auch Rellingen, Henstedt-Ulzburg und weitere Umlandkommunen setzen auf das Angebot des städtischen Unternehmens, das mehr als 300.000 Kunden hat und jedes Jahr einstellige Millionengewinne einfährt. „Das ist ein gutes Beispiel für die Innovationskraft in der Stadt“, sagt Grote.

Die Kapazität des Glasfasernetzes reicht auch noch für ein weiteres zukunftsweisendes Projekt: die intelligente Nutzung von Energie, auch bekannt unter smart metering und smart grid. Ziel des Norderstedter Beitrags zur Energiewende ist, den Stromverbrauch in den Haushalten so zu steuern, dass er dann abgenommen wird, wenn der Wind bläst und die Sonne scheint. Dafür praktikable und akzeptable Lösungen zu entwickeln, reicht über Norderstedt hinaus. Die Stadtwerke forschen im Auftrag des Bundes zusammen mit Partnern aus der Wissenschaft, die intelligente Steuerung ist Teil der „ZukunftsWerkStadt“ – Norderstedt ist eine von 16 Städten und Gemeinden in Deutschland, die mit Fördermitteln aus Berlin an der Zukunft des urbanen Lebens arbeiten.

„Nachhaltigkeit ist ein weiteres gewichtiges Argument bei der Ansiedlung von Unternehmen“, sagt Grote. Und da spielt die Stadt ganz vorne mit: Im Nordport sind namhafte Unternehmen gelandet. Tom Tailor hat dort sein Lager und Logistikzentrum, von Garbes World Cargo Center geht Luftfracht in die ganze Welt. Vor allem aber freut Grote, dass es gelungen ist, einen „Global Player“ in der Stadt zu halten: Casio wollte expandieren und hatte schon einen Schritt aus der Stadt hinaus gemacht, dann entschied sich der japanische Elektronik-Konzern doch, seine neue Europa-Zentrale auf dem Nordport zu bauen.

So wuchs die Zahl der Unternehmen kontinuierlich auf aktuell 5207. „Unsere Stärke ist unsere Vielfalt an vorrangig mittelständisch geprägten Unternehmen. Das macht uns unabhängiger, falls doch mal ein Betrieb Norderstedt verlässt oder aufgeben muss“, sagt der Oberbürgermeister. Mit 2208 Betrieben sind die Dienstleister am stärksten in der Stadt vertreten, auf den Einzelhandel entfallen 922 und auf den Groß- und Außenhandel 622 Firmen.

Wo Geld zu holen oder zu vergeben ist, ist auch eine Branche nicht weit: Norderstedt hat nach der Finanzmetropole Frankfurt die zweithöchste Bankendichte in Deutschland. Zwölf Banken und Sparkassen sind zum Teil mit mehreren Filialen in der Stadt vertreten, mit der Norderstedter Bank gibt es sogar eine stadteigene.

Die Unternehmen bieten insgesamt 31.530 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, ein Angebot, das rechnerisch reicht, um jedem arbeitsfähigen Norderstedter einen Job in seinem Wohnort anzubieten. Norderstedt ist der drittgrößte Arbeitsort in Schleswig-Holstein, mit gut 77.000 Einwohnern aber „nur“ die fünftgrößte Stadt im Norden.

Das Verhältnis zwischen Hamburg und Norderstedt ist nicht ungetrübt

Das große Angebot an Arbeitsplätzen bringt eine positive Pendler-Statistik: 21.732 Menschen kommen von außerhalb zur Arbeit nach Norderstedt, aber nur 19.625 Norderstedter verlassen ihren Wohnort für den Job, 14.945 davon Richtung Hamburg. Das Verhältnis zwischen der Großstadt und seinem kleinen, aber potenten Anrainer ist gespalten. Immer wieder wurden die Norderstedter bei ihren Schmuseversuchen abgewiesen. Der frühere schleswig-holsteinische Wirtschaftsminister Dietrich Austermann (CDU) wollte noch 2005 den Zaun zwischen dem Nordport und dem Flughafengelände einreißen. Dann könne die Luftfracht direkt aus den Maschinen zu den Firmen im neuen Norderstedter Gewerbegebiet gebracht werden. Doch da spielten die Hamburger nicht mit, sie bauten am Flughafen ein eigenes Luftfrachtzentrum.

Auch der Bau des Kreisels Ochsenzoll scheiterte zunächst am Hamburger Veto. Die Hansestadt befürchtete, dass der Verkehr auf der Langenhorner Chaussee kräftig zunehmen würde und verlangte von Norderstedt, erst die andere Nord-Süd-Achse auszubauen: die Niendorfer Straße.

Beim jüngsten Norderstedter Coup, der Ansiedlung von Tesa, kam ein weiterer Standortvorteil ins Spiel: die ideale Größe Norderstedts, sagt Grote. „Wir sind groß genug, um wettbewerbsfähig zu sein, und klein genug, um schnell, flexible und unbürokratisch entscheiden und handeln zu können. Mit Kitas, Schulen, Theater, Kino auf der einen und viel Grün und Freizeitmöglichkeiten auf der anderen Seite bieten wir hohe Lebensqualität.“ Norderstedt sei urban und zugleich nachbarschaftlich und vertraut.

Die Stadt sei zwar ein Kunstprodukt ohne Fachwerkhäuser oder einen historischen Marktplatz und mit der von Hamburg betriebenen Justizvollzugsanstalt Glasmoor als einzigem denkmalgeschützten Gebäude auf Norderstedter Territorium, aber: Neben der Lage schaffen Innovationskraft, Nachhaltigkeit und Flexibilität in der Wirtschaft ein positives Bild der Stadt. Und: Image ist alles, sagt Oberbürgermeister Grote.