Der Historiker Thomas Käpernick interviewt in Polen und Frankreich Zeitzeugen des Lagers. „Lebensgeschichtliche Interviews“ heißt das Projekt, das für die pädagogische Arbeit genutzt werden soll.
Kaltenkirchen. Ganz nüchtern habe er gewirkt. Ohne Hass und ohne Pathos. Mieczyslaw Swierczewski berichtete von Verschleppung und Willkür, Zwangarbeit und Tod. „Er hat distanziert erzählt“, sagt Thomas Käpernick. Der Historiker hat Mieczyslaw Swierczewski in seiner Heimatstadt Warschau zum Interview getroffen. Von dort haben ihn die Nazis im Zweiten Weltkrieg verschleppt – ins ferne Schleswig-Holstein, ins KZ-Außenkommando Kaltenkirchen-Springhirsch. Damals war der Pole 15 Jahre alt, heute ist er 85. Mieczyslaw Swierczewski gehört zu den letzten vier Überlebenden des Lagers, das 1944 an der damaligen Reichstraße 4 und heutigen Bundesstraße 4 entstand. Auch mit den anderen drei Männern will Käpernick sprechen. „Lebensgeschichtliche Interviews“ heißt das Projekt.
Diese ausführlichen Gespräche mit ehemaligen Häftlingen werden die ersten und die letzten über das Leben von Menschen sein, die in Kaltenkirchen ins KZ kamen. Edward Stefaniak, ebenfalls aus Warschau, bekommt im November Besuch von Käpernick und einem Dolmetscher. Im Frühjahr führt die Reise zu den Franzosen Paul Krattinger und Pierre Vigne. Swierczewski ist mit seinen 85 Jahren der jüngste.
Wenn Historiker „lebensgeschichtliche Interviews“ führen, dauern die Gespräche in der Regel mehr als fünf Stunden. Käpernick weiß, dass er diesen Zeitzeugen diese Strapaze nicht am Stück zu zumuten kann. Die Männer sind alt und schnell erschöpft von den Erinnerungen an die Zeit, als die SS in Kaltenkirchen das Lager gründete und Hunderte von Häftlingen aus ganz Europa zwang, den Flugplatz für die Luftwaffe auszubauen. Eine von Hitlers „Wunderwaffen“, die Düsenflugzeuge von Messerschmitt, sollten hier starten und landen.
Mindestens 260 Menschen starben im Lager, Swierczewski überlebte. Sein Vater gehörte zu den Kämpfern des Warschauer Aufstand. Im August 1944 erhoben sich Polen gegen die deutsche Besatzer, die den Aufstand erbarmungslos niederschlugen. Die Spur von Swierczewskis Vater verliert sich in den Trümmern, sein Sohn wurde zunächst in ein Durchgangslager, dann ins KZ Neuengamme in Hamburg verschleppt.
In Kaltenkirchen, einem Außenlager des KZ Neuengamme, wurde der 15-Jährige zum Stubendienst eingeteilt. Er musste die Räume in den Baracken sauber halten, sie beheizen und die Suppe verteilen. Die Arbeit auf dem Flugplatz blieb dem Jungen bis auf eine Woche erspart. Dass er fast nie unter freiem Himmel arbeiten musste, habe ihm vermutlich das Leben gerettet, sagt Swierczewski. Er hatte im Lager eine Marineuniform ergattert. Sie war ihm zu groß, hielt aber warm. Als der 15-Jährige angekommen war, trug er nicht einmal Unterwäsche unter seiner Kleidung.
Den Fragenkatalog hatte Käpernick gemeinsam mit Gerhard Hoch zusammengestellt, der seit Jahrzehnten die Geschichte des KZ-Außenlagers erforscht und mehrere Bücher darüber geschrieben hat. Viele Fragen sind bis heute offen. Unklar ist beispielsweise, wie viele Menschen genau an Zwangsarbeit, Unterernährung oder Krankheiten starben. 260 sind halbwegs historisch nachweisbar, doch immer wieder tauchen ernst zu nehmende Hinweise auf bislang unentdeckte Massengräber auf. Außerdem beschäftigen die Historiker immer noch viele Fragen zum Abtransport der Häftlinge, die im April 1945 nach Bombenangriffen der Alliierten nach Wöbbelin bei Ludwigslust transportiert wurden und dort bis zur Befreiung unter noch schlimmeren Bedingungen als in Kaltenkirchen gefangen waren.
„Diese Fragen konnte er uns nicht beantworten“, sagt Käpernick. Swierczewski konnte ausführlich vom Lageralltag berichten, worüber die Männer sich unterhielten, was sie aßen. Ob die Erinnerungen verschwunden sind oder ob der Zeitzeuge sich nicht damit konfrontieren wollte, ist unklar. „Er hat im Gespräch versucht, vieles nicht an sich heranzulassen“, sagt Käpernick. „Über manche Themen wollte er nicht sprechen. Wir haben das respektiert.“
Käpernick arbeitet als Guide im früheren KZ Neuengamme und hat bereits mit mehreren Überlebenden „lebensgeschichtliche Interviews“ geführt. Die Gespräche eignen sich besonders für die pädagogische Arbeit, sagt der Historiker. „Sie sind anschaulich und greifbar.“
Käpernick: „Die anschaulichen, konkreten Momente, von denen uns Herr Swierczewski erzählte, sind für jugendliche Besucher besonders geeignet, die Realität eines KZ vor Augen zu führen.“ Wann das Material aus Text und Film in Kaltenkirchen zusammengestellt sein wird, weiß Käpernick noch nicht. Zunächst müssen die Interviews aufgeschrieben und übersetzt werden. Dieser Teil der Arbeit soll beginnen, wenn er alle Überlebenden befragt hat. „Dieses Interview soll die Arbeit der Gedenkstätte weiter fördern“, sagt Käpernick. Das Filmmaterial könnte in der Ausstellung der Gedenkstätte gezeigt werden.
Nach seiner Haft in Deutschland kehrte Swierczewski in seine Heimat zurück. Er studierte, gründete eine Familie und wurde Arzt. „Herr Swierczewski steht trotz seines hohen Alters noch mitten im Leben“, sagt Käpernick. „Er arbeitet sogar noch dreimal wöchentlich als Arzt.“ Seine Gäste aus Deutschland fuhr Swierczewski persönlich mit seinem Auto durch Warschau, um ihnen die Stadt zu zeigen. Der 85-Jährige ist Mitglied im Warschauer Club ehemaliger Häftlinge des KZ Neuengamme.
Der Trägerverein der KZ-Gedenkstätte hatte Swierczewski nach Kaltenkirchen eingeladen. Gern wäre er gekommen, doch Warschau will er nicht verlassen. Er muss sich um seine Frau kümmern, die ist schwer krank. An der Arbeit der Gedenkstätte ist der 85-Jährige sehr interessiert und hat zugesagt, die Kontakte nach Kaltenkirchen aufrechtzuerhalten. Die Gedenkstätte und die Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten haben die Reise des Historikers und des Dolmetschers finanziert. Am 27. Januar 2015 wird Thomas Käpernick in Kaltenkirchen zum internationalen Gedenktag zur Befreiung des Konzentrationslager Auschwitz über das Interview sprechen.