Bei der Suche nach Wohnungen und Gebäuden, die die Flut der Flüchtlinge aufnehmen könnten, scheint die Stadtverwaltung zunehmend überfordert zu sein. Die Notunterkünfte sind jetzt übervoll.
Norderstedt. Wenn die Sozialdezernentin einer 75.000-Einwohner-Stadt sich ganz offen für ihr Handeln entschuldigt, muss die Lage dramatisch sein. Aber Anette Reinders bleibt nichts anderes mehr übrig: Denn Norderstedt muss Hunderte Flüchtlinge in den kommenden Monaten aufnehmen und weiß nicht mehr wo. „Gestern standen wieder 18 Menschen aus Syrien vor dem Rathaus. Wir haben sie in den Unterkünften am Buchenweg und an der Lawaetzstraße untergebracht.“ Alle müssten dort jetzt zusammenrücken. „Es ist viel zu eng. Und es tut mir Leid, dass wir den Menschen nichts Besseres anbieten können. Aber wir stehen mit dem Rücken zur Wand.“
230 Menschen aus den Krisengebieten der Welt strömen in diesem Jahr in die Stadt. 123 sind schon da, 107 werden bis zum Winter noch kommen. Dazu muss mit den regelmäßig in der kalten Jahreszeit etwa zehn bis 15 Obdachlosen gerechnet werden. Und 2015 wird die Flüchtlingswelle nicht etwa abebben. Vielmehr rechnet die Stadt abermals mit einem dreistelligen Zuwachs an Menschen.
Was die Stadt an Unterbringungsmöglichkeiten hat, ist jetzt übervoll belegt: Die Häuser an der Lawaetzstraße, am Buchenweg, die Schlichtwohnungen am Kiefernkamp und an der Friedrich-Ebert-Straße, die Unterkunft am Langenharmer Weg und die alten, zum Teil renovierungsbedürftigen Hausmeisterwohnungen in den Schulen der Stadt. Für 80 bis 100 der demnächst ankommenden Menschen hat die Stadt „Fehlbedarf“, wie sie es beschreibt.
Zelte für die Unterbringung der Menschen aufzubauen, so wie es in Neumünster geschieht, das hält Anette Reinders angesichts der kommenden kalten Jahreszeit für völlig ungeeignet. Aber sie teilt mit ihrem Dienstherrn die Auffassung, dass jedes öffentliche Gebäude mit einem Dach und sanitären Einrichtungen in die Planungen einbezogen werden muss. „Es ist nicht auszuschließen, dass wir Jugendeinrichtungen, Seniorentreffs oder Turnhallen im Notfall für eine Unterbringung nutzen müssen“, sagt Oberbürgermeister Hans-Joachim Grote.
Alle Register werden derzeit im Rathaus gezogen, um neuen Raum zu erschließen. Kurzfristig können in den beiden Hausmeisterwohnungen im Schulzentrum-Süd, der Wohnung im Obergeschoss der ehemaligen Feuerwache Glashütte und der ehemaligen Lehrerwohnung an der Pestalozzistraße etwa 20 bis 25 Personen untergebracht werden.
„Mit den Wohnungsbaugesellschaften stehen wir in ständigen Verhandlungen zur Anmietung von Wohnraum“, sagt Reinders. Fünf Wohnungen der Neuen Lübecker sind, befristet bis Februar 2015, ab dem 22. September bezugsfertig. 25 Menschen sollen hier unterkommen. Plambeck bietet zwei Wohnungen am Buckhörner Moor ab Anfang November an. Der Bauverein der Elbgemeinden hat ein Gebäude in Glashütte zu langfristigen Anmietung in Aussicht gestellt, dazu zwei Einzelwohnungen. Mit Adlershorst steht die Stadt in Verhandlungen über die leer stehenden Wohnhäuser am Finkenried in Harksheide. „Außerdem wird die Gemeinschaftsschule Harksheide am 1.Oktober den Neubau beziehen. Damit wird das alte Gebäude an der Straße Fadens Tannen frei. Wir werden Sanitärcontainer aufstellen und die Klassenzimmer zu Wohnungen umgestalten“, sagt Oberbürgermeister Grote. 60 Menschen will die Stadt hier unterbringen.
Auf der Freifläche neben der Feuerwache Friedrichsgabe am Harkshörner Weg soll ein Containerdorf für 60 Menschen entstehen. „Doch das Vergaberecht schreibt uns vor, die Ausschreibung europaweit zu machen. Das bedeutet allein drei Monate Bewerbungsfrist“, sagt Grote. Unwahrscheinlich, dass die Container noch vor dem Winter aufgestellt werden können.
Sogar das Anmieten von Hotels schließt Anette Reinders nicht aus. Auch wenn das eine sehr teure Alternative sei. Für kreative Ideen ist die Stadt derzeit offen. Auch das Engagement von Privatpersonen, die sich die Aufnahme einer Flüchtlingsfamilie vorstellen können, sei gerne gesehen. Verzichten kann die Stadt auf unlautere Angebote, wie sie derzeit laufend gemacht werden. „Es gibt Menschen, die gerne Flüchtlinge aufnehmen wollen – für 100 Euro pro Kopf und Tag. Die wollen sich bereichern an der Not der Menschen“, sagt Oberbürgermeister Grote.
Die drängenden Unterbringungsprobleme lassen andere Entwicklungen in den Hintergrund treten. Obwohl diese nicht weniger entscheidend sind für das Klima in der Stadt. Denn langsam regt sich der bürgerliche Widerstand in den Stadtteilen. Im Rathaus melden sich Bürger, die keine Flüchtlinge in der Nachbarschaft wünschen. Die üblichen stumpfen Ressentiments sind auch dabei: Flüchtlinge werden gleichgesetzt mit Kriminellen, die in der Nachbarschaft nur für Ärger sorgen. Mit viel Aufklärungsarbeit muss dieser Stimmung begegnet werden.
Die Betreuung der Flüchtlinge in den Norderstedter Einrichtungen ist eine weitere große Baustelle der Sozialdezernentin. „Ohne unsere engagierten, ehrenamtlichen Begrüßungsteams würden wir das nie schaffen“, sagt Reinders. Über 30 Norderstedter engagieren sich gemeinsam mit Dolmetschern, um den Flüchtlingen nach ihrer Ankunft bei den ersten Schritten in der unbekannten Umgebung zu helfen.
Doch das genügt nicht. Reinders hat einen Brandbrief an Segebergs neuen Landrat Jan Peter Schröder geschrieben. Sie bittet um die Weiterleitung der beim Kreis liegenden Landesmittel für die Betreuung von Flüchtlingen in Norderstedt. „Wir wollen mit dem Geld einen Sozialpädagogen einstellen, der in den Einrichtungen ständiger Ansprechpartner ist. Es macht keinen Sinn, dass der Kreis von dem Geld einen Betreuer finanziert, der nur drei Stunden im Monat in Norderstedt vor Ort ist“, sagt Reinders.