Die Kieler Kersig GmbH möchte in Norderstedt Altgebäude abreißen und einen großen Neubau erstellen. Die Altmieter werden vor vollendete Tatsachen gestellt und aufgefordert, sich neue Wohnungen zu suchen.
Norderstedt Die 44 Mieter, die in den fünf Mehrfamilienhäusern an der Königsberger Straße wohnen, haben zum Teil Mietverträge, die vor über sechs Jahrzehnten abgeschlossen wurden. Jetzt müssen sie trotzdem raus. Denn bis Ende des Jahres will der Eigentümer, die Kersig Immobilien GmbH aus Kiel die Wohnblocks mit den günstigen Ein- bis Zweieinhalb-Zimmerwohnungen entmietet haben. Danach kommen die Abrissbagger. Vier neue Wohnhäuser mit 68 Wohnungen und Tiefgarage sollen auf dem Grundstück in Garstedt entstehen.
Die Mieter sind geschockt: „Das kann doch nicht angehen. Uns hier einfach so mitzuteilen, dass abgerissen wird und wir uns schon mal nach einer neuen Wohnung umschauen sollen. Die haben doch gerade erst die Außenanlagen am Haus neu gestaltet. Und jetzt so was“, sagt Helmut Drechsler, 63, der gemeinsam mit seiner Freundin Renate Müller, 58, im Haus 6 an der Königsberger Straße lebt. „Den Mietvertrag für die Zwei-Zimmer-Wohnung habe ich hier vor über 40 Jahren abgeschlossen. Ganz schön hart, jetzt hier raus zu müssen“, sagt Renate Müller.
Im April bekamen das Paar und die anderen verbliebenen Bewohner Mietaufhebungsverträge zugeschickt. Wer unterschrieb und damit den Auszug bis zum 31. Dezember garantierte, der bekam von der Kersig GmbH 1000 Euro Aufwandspauschale, 1000 Euro Umzugskostenerstattung und die letzte Miete im Dezember erstattet. Etwa die Hälfte der Mieter ging auf diesen Deal ein. Doch etwa sechs Mieter weigerten sich, den Aufhebungsvertrag bis zum Stichtag am 15. Juni zu unterschreiben. Diesen Rat hatten sich einige der Mieter auch bei ihren Anwälten beim Mieterschutzbund oder der Verbraucherzentrale geholt. Doch was jetzt mit ihnen geschieht, ist noch unklar.
„Ein Mitarbeiter von Kersig lief vor dem Stichtag in der Anlage herum und versuchte, Mieter von der Unterschrift unter dem Aufhebungsvertrag zu überzeugen. So nach dem Motto: Sie wollen doch wohl nicht auf die 2000 Euro verzichten“, sagt Drechsler. Er fühlt sich für dumm verkauft. „Allein die Maklercourtage frisst die 2000 Euro bei einem Umzug schon fast auf.“ Renate Müller gibt sich kämpferisch: „Wir sind im Rechtsschutz und nehmen uns einen Anwalt. Wir gehen hier nicht so einfach raus.“ Mit 450 Euro warm ist die Zwei-Zimmer-Wohnung der beiden konkurrenzlos günstig auf dem Mietmarkt. Sie liegt zentral in Nachbarschaft von U-Bahn und Herold-Center. „Für den Preis finden sie nichts vergleichbares in der Region“, sagt Müller. Und höhere Mieten kann sich das Paar nicht leisten. Drechsler saß viele Jahrzehnte am Empfang der Generali-Versicherung in Hamburg am Empfang, ist jetzt im Vorruhestand und bezieht eine bescheidene Rente. Renate Müller, kaufmännische Angestellte, ist gerade arbeitslos geworden, nachdem sie über Jahre bei Edeka in der Zentrale gearbeitet hatte. „Die Wohnung haben wir uns hübsch ausgestattet, wir haben viel Geld rein gesteckt. Die reicht uns eigentlich für den Rest des Lebens – haben wir gedacht“, sagt Müller.
Philipp Kersig, geschäftsführender Gesellschafter der Kersig Gmbh & Co Kg hält sich gegenüber der Presse bedeckt was die Pläne des Unternehmens in Norderstedt angeht. Er fürchtet, falsch dargestellt zu werden. Immerhin verrät er, dass sein Unternehmen darauf bedacht sei, Einvernehmen mit den Mietern herzustellen. „Einer unserer Mitarbeiter ist laufend vor Ort und sucht das Gespräch“, sagt Kersig. Es sei dem Unternehmen wichtig, für alle Mieter eine Lösung zu finden.
Was nicht verwundert: „Je näher der Termin für den geplanten Neubau kommt, desto dringender wird es für den Eigentümer, die Immobilie frei von Mietern zu haben“, sagt Kurt Plagemann, Geschäftsführer vom Mieterverein Norderstedt. „Es ist wieder eines dieser Beispiele für die Verdrängung von Altmietern. Leider hat der Bundesgerichtshof etliche Urteile gesprochen, die den Investoren freie Hand geben bei diesem Vorgehen.“ Den Mietern würde angesichts der Abrisspläne nicht viel mehr übrig bleiben, als auf Zeit zu spielen. Vorschnell sollten keine Mietaufhebungsverträge unterzeichnet werden. „Die von Kersig angebotenen 1000 Euro für Umzug und weitere 1000 Euro für Unkosten reichen doch hinten und vorne nicht, wenn man sich auf dem jetzigen Mietmarkt eine neue bezahlbare Wohnung suchen muss“, sagt Plagemann.
Wenn sich ein Mieter dem Auszug komplett verweigert, dann muss der Vermieter eine Zivilklage anstrengen. „Und genau davor haben die Wohnungsbauunternehmen Angst. Diese Klagen können einen Neubau um Jahre verzögern“, sagt Plagemann. Die Erfahrung in anderen Fällen zeige, dass die Bereitschaft zur Unkostenübernahme durch den Vermieter steige, je länger sich eine Auseinandersetzung mit dem Mieter hinziehe. „Mir sind Fälle in Kiel bekannt, in denen Investoren bis zu 20.000 Euro je Mieter ausgaben, nur um die Immobilie endlich frei zu bekommen“, sagt Plagemann.
Einige Mieter hatten sich Hilfe suchend an die Stadt, den Sozialausschuss und an den Seniorenbeirat der Stadt gewandt. Helmut Drechsler: „Ich hatte sogar einen Termin bei Baudezernent Bosse. Der hat mir mitgeteilt, dass die Stadt keine rechtliche Handhabe gegen das Projekt habe. Er zeigte mir sogar schon die Pläne, wie es auf dem Grundstück in Zukunft mal aussehen soll.“
Sozialdezernentin Anette Reinders bestätigt, dass der Stadt die rechtlichen Mittel fehlen würden, um Abrisse wie diesen zu verhindern. „Im Grundsatz sind wir auch dafür, dass neuer, hochwertiger Wohnraum geschaffen wird. In diesem Fall ist nur der Umgang mit den Altmietern unglücklich.“
Jürgen Peters von der Arbeitsgruppe Stadtentwicklung des Seniorenbeirates kritisiert, dass erneut besonders günstige Wohnungen in Norderstedt verschwinden. „Die Stadt hat in den vergangenen Jahren den sozialen Wohnungsbau in der Stadt vernachlässigt“, sagt Peters. Immerhin: Nach dem Beschluss der Stadtvertretung zum sozialen Wohnungsbau muss Kersig im Neubau mindestens 30 Prozent geförderten Wohnraum einplanen.
Dass Helmut Drechsler und Renate Müller eine dieser günstigen Wohnungen beziehen könnten, halten sie für unwahrscheinlich. „Die sind trotzdem zu teuer für uns. Außerdem hat Kersig uns das gar nicht angeboten“, sagt Renate Müller. „Und wo sollen wir in der Bauzeit bleiben? Zwei Mal ein- und wieder auszuziehen, das finde ich schrecklich. Dann suchen wir uns lieber gleich was Neues – wo auch immer wir dann landen.“