Seine Frau und seine Stieftochter leben in Angst. Das Versprechen des Justizministers: Hilmar N. wird von der Polizei überwacht.

Lübeck/Kiel. Justitias Augen sind verbunden: Ohne Ansehen der Person soll das Recht für alle gelten. In Lübeck hat dieses Gebot der Unvoreingenommenheit dazu geführt, dass ein verurteilter und nach Expertenmeinung nicht therapierbarer Sexualstraftäter gestern auf freien Fuß kam. Auslöser der Entlassung war ein Formfehler.

Das Opfer des 61-Jährigen und dessen Mutter sind seitdem in Todesangst. "Wenn du mit jemandem darüber sprichst, dann spalte ich dir den Schädel." Diese Drohung hat Valentina N. nicht vergessen. Vier Jahre lang war die heute 44-Jährige mit Hilmar N. verheirat - mit dem Mann, der 2004 vom Kieler Landgericht verurteilt wurde, weil er seine Stieftochter, Valentina N.s Tochter Nathalie, über Jahre missbraucht hatte. Sieben Jahre war das Mädchen beim ersten Übergriff alt. Die Angst der Mutter: "Ich habe ja als Zeugin bei der Polizei ausgesagt. Ich habe Angst vor seiner Rache. Ich habe Angst um meine Tochter."

Dass von ihrem Ex-Mann nach wie vor Gefahr ausgeht, davon ist nicht nur Valentina N. überzeugt. Therapien verweigerte N. sich während der Haft, Experten halten ihn nach wie vor für einen gefährlichen Pädophilen, von dem weitere Sexualstraftaten zu befürchten sind. Deshalb sollte er über seine Haftstrafe hinaus in Sicherungsverwahrung untergebracht werden - eigentlich.

Dazu hätte ein Gutachten über seine Gefährlichkeit erstellt werden und vom Gutachter dem Gericht vorgetragen werden müssen. Weil der aber dauerhaft erkrankt war, verstrich die gesetzlich vorgeschriebene Frist. Aufgrund eines zweiten Gutachtens wurde zwar Sicherungsverwahrung angeordnet, aber vom Bundesgerichtshof (BGH) verworfen, weil diese Entscheidung sieben Monate zu spät kam. Abgelehnt wurde vom Oberlandesgericht (OLG) in Schleswig auch der Erlass eines Unterbringungsbefehls mit der Begründung, dass während der Haft keine neuen Erkenntnisse über die Gefährlichkeit des Verurteilten zutage getreten seien, was aber Voraussetzung gewesen wäre. Die Kieler Staatsanwaltschaft hofft indessen weiterhin auf eine nachträgliche Sicherungsverwahrung, über die noch in einer öffentlichen Hauptverhandlung entschieden werden muss.

Juristischen Laien sind das BGH- und das OLG-Urteil, die die Rechte des Täters wahren, kaum zu vermitteln. Entsprechend fassungslos ist auch Valentina N.: "Wie kann es sein, dass die Justiz keine Sicherheitsverwahrung veranlasst, nur weil ein Gutachter krank ist?" Auch Schleswig-Holsteins Justizminister Uwe Döring (SPD), der hier zunächst eine Gesetzeslücke gesehen und den Fall bekannt gemacht hatte, sagte gestern knapp: "Ich bedauere sehr, dass ein solch gefährlicher Straftäter aufgrund eines Formfehlers auf freien Fuß kommt."

Scharfe Kritik an den Behörden kommt von der Opferschutzorganisation Weisser Ring: Entscheidend sei, dass dem vorbeugenden Opferschutz die ausschließliche Priorität zukomme.

Justizminister Döring signalisierte gestern, dass Hilmar N. unter Beobachtung bleibt: Mit dem Kieler Sicherheitssystem KSKS stellen Justiz, Strafvollzug und Betreuungseinrichtungen der Polizei alle Informationen zur Verfügung, die sie braucht, um zur Gefahrenabwehr eine geeignete Überwachung vorzunehmen. Dieses Konzept greife auch für den Fall, dass der Straftäter Schleswig-Holstein verlasse, sagte der Justizminister. Genau das hat N. dem Vernehmen nach bereits getan. Bremen soll sein Ziel sein. "Er wird nicht wissen, wann er überwacht wird, aber dass er beobachtet wird." Für eine "Rundumüberwachung" allerdings fehle das Personal.

Das weiß auch Valentina N. und hat Angst. Vor acht Jahren heirateten die gebürtige Russin und Hilmar N. Fast über Nacht sei ihr Mann körperlich und seelisch gewalttätig geworden, habe sie immer häufiger aus dem Haus haben wollen, blieb mit dem Kind allein, missbrauchte es, filmte es.

Nathalie ist heute 15 Jahre alt. Ein junges Mädchen, das mit den Bildern seiner zerstörten Kindheit leben muss.

Justitias Augen sind verbunden. Für Nathalie und ihre Mutter ist das kein Zeichen von Unvoreingenommenheit, sondern von Blindheit.