Rückblick auf eine spannende Zeit: In jahrzehntelanger Puzzle-Arbeit haben Archäologen das Leben der Menschen in der Mittelsteinzeit rekonstruiert.

Hamburg. Schon kurz nach Sonnenaufgang klettern Vater und Sohn mit ihren Angeln und Reusen in das kleine Boot. Auch der Lieblingshund des Jungen darf mit an Bord. Ein breiter Bach mündet in eine kleine Bucht. In der schwachen Strömung steht ein Hecht; seine Schwanzflosse schaut unter einem Seerosenblatt hervor. Ein Fischspeer stößt nieder, der erste Fang des Tages ist geglückt.

Die ungewöhnliche Jagdmethode zeigt: Die Szene spielt nicht in der Zeit von Außenbordmotor, Teleskoprute und Wireless LCD Funk-Bissanzeiger, sondern vor siebeneinhalb Jahrtausenden an der Ostseeküste bei Neustadt in Holstein - es ist die Geburtstunde der Schifffahrt im Norden. In bis zu zehn Meter langen Einbäumen, mit großer Meisterschaft aus kerzengeraden Lindenstämmen gehöhlt. Die Reusen der Fischer sind aus Weidenruten geflochten, die Angelschnüre aus in Tran getauchtem Lindenbast gedreht.

Mit bruchfesten Stechpaddeln aus Eschenholz wagt sich unzähmbare Unternehmungslust bald auf der Elbe nach Sachsen und auf der Ostsee nach Schweden. Die ersten Boots- und Seefahrer des Nordens begründen eine Kultur, die unsere Heimat bis heute prägt: Nordostsee-Kanal und Hamburger Hafen, Alsterdampfer und Speicherstadt sind die Errungenschaften einer Wirtschaftsform, die in ferner Frühzeit wurzelt.

Es ist eine neblige, doch keineswegs dunkle Epoche: "Die Endphase der mittelsteinzeitlichen Jäger-Sammler-Kulturen zwischen 5500 und 3100 v. Chr. gilt heute als einer der am besten erforschten Abschnitte der nordischen Steinzeit", sagt der Archäologe Dr. Sönke Hartz (51) aus Borgwedel bei Schleswig. "In jahrzehntelanger Puzzle-Arbeit haben Archäologen und Experten aus den Naturwissenschaften Stück für Stück die Lebensverhältnisse der Menschen rekonstruiert und können heute ein detailliertes Bild der Umwelt und der Jagd- und Ernährungsstrategien zeichnen."

Die wichtigsten Resultate fassen der Archäologe Claus von Carnap-Bornheim (49) und der Historiker Christian Radtke (65) vom Archäologischen Landesmuseum auf Schloss Gottorf jetzt in dem Buch "Es war einmal ein Schiff" zusammen. Das Werk zeigt den steinzeitlichen Norddeutschen als geschickten Jäger, einfallsreichen Handwerker und tapferen Krieger, vor allem aber als Pioniere der Wasserfahrt in aquatischer Lebensweise auf Strand und Woge.

Den Namen erhält diese Kultur vom wichtigsten Fundort Ertebælle am Ostufer des Limfjords im Norden Jütlands, doch reicht sie weit über Dänemark hinaus: Überall dort, wo Mutter Natur es fordert und fördert, nutzen die Menschen Meer und Fluss als Jagdgrund und Wanderweg, Ufer und Küste aber als idealen Wohnort für eine Daseinsform, die wie ein dörfliches Venedig Wasser liebt und lebt.

Wasser ist das beherrschende Element: Um 6300 v. Chr. hat eine atlantische Sintflut die Landbrücke zwischen Norwegen und Dänemark überrollt und die Ostsee mit den Weltmeeren verbunden. Danach ist das einstige Binnenmeer eineinhalb Jahrtausende lang jedes Jahr um zwei bis drei Zentimeter gestiegen. Um 5000 v. Chr. hat es etwa seine heutige Größe erreicht. Die einst überaus gleichmäßige Landschaft formt sich zur heutigen Vielgestalt: Nord- und Ostjütland, Inseldänemark und Südschweden, von der Last der Eiszeitgletscher befreit, heben sich, dafür sinken Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern ab. Überall entstehen Inseln und Lagunen, Dünen wandern, Bäche ändern ihren Lauf. Erosion zerstört die Kliffs, und Strömungen türmen Strandwälle auf, die Buchten und Förden abriegeln.

So wie den Ur-Europäer die Zerklüftung seines küstenreichen Kontinents zu kulturellen Sonderleistungen herausforderte, passt sich der Ur-Norddeutsche seiner ständig schwankenden Siedlungsgrundlage perfekt an. Immer wieder müssen er vom Saum der Strände weichen, neue Siedlungsplätze suchen und neue Lebensräume erobern. Mit dem Wechsel von Ebbe und Flut vertraut wie der Ägypter mit den Wasserständen des Nil, sammelt er Nahrung im Watt, fängt Vögel im Schilf der Marsch, jagt Großwild in den weiten Wäldern der Geest. Besser als mancher moderne Arbeitnehmer damit vertraut, seine Hütte abzubrechen, wenn es sich anderswo zu wohnen lohnt, zieht er durch ein Paradies.

Das Klima ist zwei bis drei Grad wärmer als heute, um Hamburg leben Pelikan und Pfeilrochen, Sumpfschildkröte und Streifenbarsch. In den Wäldern hausen Rothirsch, Auerochse, Wildschwein und Reh. Knochenfunde zeigen, dass die Geweihträger deutlich größer und kräftiger sind als ihre Nachfahren. Elche bevorzugen die feuchten, offenen Niederungen, Wildpferde die Wiesen der Geest. Wolf, Luchs und Braunbär konkurrieren mit den Jägern um das Groß-, Fuchs, Dachs, Wildkatze und Baummarder um das Kleinwild.

Biber und Fischotter herrschen über die aquatischen Gegenden, mit Hecht, Flussbarsch und Zander schwimmt damals auch noch der Stör durch die Ströme. In den Mündungen stehen Flussbarsch, Hecht und Rotauge, Lachs und Meerforelle wandern durch die Bäche ins Land.

Sattel-, Kegel- und Ringelrobben sonnen sich zu Tausenden auf den zahllosen Sandbänken, Tümmler folgen den riesigen Heringsschwärmen in die Buchten, kapitale Blau- und Pottwale schwimmen an die Küsten - aus der Rippe eines Moby Dick stammt etwa die Spitze einer Harpune, die Sigrun Hoppe, Hobbyarchäologin aus Sierksdorf, im Sommer 1969 aus dem Saugbaggergut einer Hafenvertiefung in Neustadt/Holstein birgt. Auch der Killerwal strandet schon mal auf allzu gieriger Robbenjagd; seine Zähne werden bevorzugte Trophäen und begehrter Rohstoff für Waffen.

Schwäne, Gänse oder der inzwischen ausgestorbene Riesenalk bereichern mit schmackhaften Eiern den Speiseplan. Die Ausgrabungen in Neustadt fördern 100 000 bearbeitete Feuersteine, 10 000 Säugetier- und Vogelknochen, ebenso viele Fischreste, 4000 Tonscherben, 500 bearbeitete Holz-, Knochen- und Geweihgegenstände sowie unzählige Muschelschalen zutage: In Ertebælle bilden die Austern- und Schneckengehäuse einen 2000 Quadratmeter großen Haufen und werden als "Kökkenmöddinger" ("Küchenabfälle") zum archäologischen Fachbegriff.

Die frühen Ostsee-Anrainer leben in kleinen Familien: Eltern, zwei bis drei Kinder, manchmal noch Großeltern. Die Männer werden 1,70 Meter, die Frauen 1,55 Meter groß. Der Wald liefert Brennstoff und Baumaterial, aber auch Medikamente und Würzkräuter als Salz-Ersatz. Die Steinzeit-Technologie beeindruckt: Die Bögen aus dem jungen Splintholz der Ulme töten noch auf 150 Meter, die Steuerfedern für die Pfeilschäfte stammen von See- und Fischadler. Die Seitenwände der Einbäume sind nur zwei Zentimeter dick; halbrundförmige Schotten am Heck verhindern, dass das Holz aufreißt. Um Griffstücke für Steinbeile zu bekommen, binden Handwerker junge Bäumchen horizontal an und fixieren sie so am Boden, dass die Schößlinge exakt im gewünschten Winkel wachsen. Rindenstücke isolieren den Hüttenboden, Birkenpech dient als Klebstoff, Zunderschwamm als Feuerzeug, Feuerstein als Beil, Messer, Kratzer, Bohrer und Stichel. Transchälchen leuchten, wärmen und locken nachts Fische an. Um 4600 v. Chr. kommt der Tontopf für die erste Fischsuppe, vielleicht ein Import: Mindestens 30 große Einbäume sind nachgewiesen, die nicht allein zu Jagd oder Fischfang dienten, sondern Menschen und Tauchwaren über Tausende von Kilometern transportierten - auf den ersten Schifffahrtslinien des europäischen Nordens.


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