Wentorf. Ehemalige Schulschildkröte des Gymnasiums Wentorf genießt ihren Lebensabend. Warum sie auch mal in den Kühlschrank kommt.
Auf die heftigen Zärtlichkeiten ihres jungen Verehrers Bobby kann sie gut verzichten, aber ansonsten hat die betagte Dame einen gesunden Appetit: Nun ja, Essen gilt bekanntlich die Erotik des Alters. Mit eifrigem Schaben verschlingt Betsi Salatblätter und Nacktschnecken und versteckt sich vor den zudringlichen Bissen in Wange und Hals ihres ungestümen Bewunderers hinter einem Salatblatt. Die griechische Landschildkröte ist, von einigen kleinen Runzeln abgesehen, mit ihren mehr als 100 Jahren in Topform.
Das war nicht immer so. Denn das greise Reptil ist in Wentorf keine Unbekannte: Betsi war die Schulschildkröte des Gymnasiums Wentorf. Unzählige Kinder haben sie im Biologieunterricht bewundert und auch betreut. Doch in der Schule begann sie zu kränkeln. Nach den Wintermonaten wurde sie kaum wach, brauchte Injektionen mit Mineralien und Vitaminen. An Fressen war kaum zu denken. „Wir haben sie von Hand mit Leckerbissen gefüttert“, erinnert sich Hilke Wulff-Ahlers, pensionierte Lehrerin.
In Wentorf hat Betsi viel Platz und wird gepäppelt
Damals, Ende der 90er-Jahre wurde sie von Experten auf etwa 85 Jahre geschätzt. Familie Ahlers päppelte die Schildkröten-Lady nach jeder Winterruhe wieder auf, bis sie in die Schule zurückkehren konnte. „In der Natur werden Schildkröten nicht so alt“, erklärt die ehemalige Biologie-Lehrerin. „Meist verdursten oder
verhungern sie. Oder ein Greifvogel schnappt sie und lässt sie aus großer Höhe so fallen, dass ihr Panzer zerbricht.“ Dann fresse der Raubvogel das schutzlose Reptil. Die Natur sei brutal.
„Dass eine griechische Landschildkröte älter als 100 Jahre wird, ist auch in Gefangenschaft sehr selten. Aber wer weiß? Vielleicht wird uns Betsi alle überleben. Sie ist in Bestform“, stellt Wulff-Ahlers fest. Als das Tier-Gehege umfassenden Umbauten am Gymnasium zum Opfer fiel, nahm sich Familie Ahlers der alten Lady an. Bei ihnen genießt das lebende Fossil seit etwa 18 Jahren seinen Lebensabend, für Schildkröten ein regelrechtes Senioren-Paradies: Ihr Gehege ist etwa 15 mal zwei Meter groß, dort gibt es ausreichend sonnige wie schattige Plätze sowie Gras und Pflanzen, von denen sie sich ernähren könnte. Vom Löwenzahn und Rotklee lässt sie beim Fressen immer so viel stehen, dass sich die Pflanzen wieder erholen und weiterwachsen. Bobby wohnt nebenan in einem eigenen Gehege. „Denn er ist zu testosteron-gesteuert“, sagt Hilke Wulff-Ahlers. Der junge, etwa 30 Jahre alte Verehrer würde Betsi zu sehr stressen. Männchen und Weibchen hätten jeweils ihr eigenes Territorium.
Betsi verbringt einige Zeit in der Winterstarre – im Kühlschrank
„Mittlerweile kommt Betsi völlig unkompliziert und locker aus der Winterstarre“, erzählt Hilke Wulff-Ahlers. „Es ist unglaublich!“ Dabei ergibt sich die Winterstarre nicht über saisonal bedingte Außentemperaturen – sie entsteht im Kühlschrank. „Sobald es warm wird, hole ich sie aus dem Kühlschrank und lege sie in ihrem Gehege in die Sonne“, berichtet Wulff-Ahlers. „Auch während der Kältestarre vergisst sie nichts. Sie geht sofort zielstrebig an ihre Lieblingssonnenplätze oder in ihre Höhle. Und schon am zweiten Tag beginnt sie zu fressen.“
Die Wintermonate verbringen die beiden Reptilien übrigens auf Anraten der Tierärzte im Kühlschrank. „Dort finden sie optimale Bedingungen, konstante Temperaturen und Feuchtigkeit vor“, erläutert die Tierfreundin. Wenn die Tage kürzer werden, beginnen die Schildkröten unruhig zu werden. Ein Wandertrieb sorgt in der Natur dafür, dass sie den optimalen Platz für ihre Winterstarre suchen. „Manchmal haben wir Betsi schon halb eingegraben in der Erde gefunden“, erzählt Hilke Wulff-Ahlers. Sie bereitet die Reptilien auch auf das Überwintern vor, indem sie sie zunächst in den Keller bringt und dort in einer Kiste mit feuchtem Laub hält. Die Tiere entleeren sich und fahren ihren Kreislauf herunter. Stoffwechselfunktionen, Herzschlag und Atemfrequenz drosseln die wechselwarmen Tiere auf ein Minimum. „Sie atmen etwa zweimal in drei Minuten“, berichtet die Biologin. „Deshalb reicht es, wenn ich während ihrer Kältestarre einmal in der Woche den Kühlschrank lüfte.“
Die griechische Landschildkröte verspeist gern Nacktschnecken
Jungspund Bobby war einmal aus seinem Gehege ausgebüxt und blieb monatelang verschwunden. Trotz Minustemperaturen im Winter hat er alles gut überstanden. Die Stellen, wo sie aus dem Gehege herausgekommen sind, merken sich die Schildkröten übrigens genau. „Sie sind hartnäckig“, weiß Hilke Wulff-Ahlers. Sie probieren es an diesen Stellen immer wieder.
Jedes Tier hat seine individuellen Vorlieben. Während Betsi zur großen Freude ihrer Halterin gern Nacktschnecken frisst – „sie bringt sie sogar in ihre Höhle und hat ein ganz schleimiges Maul, wenn sie sie verschlungen hat“ – knackt Bobby bevorzugt die Gehäuseschnecken. „Vielleicht hat er einen höheren Kalkbedarf“, vermutet Wulff-Ahlers. Sein Panzer habe noch mehr Wachstumspotenzial als der der alten Lady. Auch Betsi wachse immer noch, wiegt mittlerweile etwa fünf Kilogramm. Ihr Panzer sei aber heute breiter ausgeprägt als in jüngeren Jahren. Noch erstaunlicher ist, dass sowohl Betsi als auch Bobby auf ihre Namen hören. Sie heben nicht nur den Kopf, wenn man sie ruft, sondern kommen sogar angelaufen. „Bobby würde man in seinem überwucherten Gehege auch nicht finden“, stellt die Tierfreundin fest. Das hätten auch die Nachbarn fasziniert beobachtet, wenn sie die beiden Schildkröten betreuen, während die Ahlers’ auf Reisen waren. „Diese lebenden Fossilien sind keineswegs dumm“, betont Hilke Wulff-Ahlers.