Lauenburg. „Ein Winter in Jakuschevsk“ basiert auf Martin Gross’ 25 Jahre altem Tagebuch – und erklärt viel über Russlands Abkehr vom Westen.
Im Winter 1998/99 erhält der Literaturwissenschaftler Martin Gross das verlockende Angebot, für eine EU-Kooperation Kontakt zu sibirischen Universitäten aufzunehmen und dort als Dozent zu arbeiten. Die schwere Wirtschaftskrise des Jahres 1998 trifft viele Russen härter als das Ende der Sowjetunion, stellt er bald fest. Gross schreibt Tagebuch, damals noch nicht wissend, welche Zeit er da beschreibt: Es war das Jahr, bevor Putin kam.
Über 20 Jahre später verarbeitet der Autor die Eindrücke in seinem Roman „Ein Winter in Jakuschevsk“. Es ist der vierte Roman von Martin Gross, und Kritiker meinen, es sei sein stärkstes Werk, weil es viel über das Russland von heute erzählt. Am Donnerstag, 31. August, ist der 71-Jährige in Lauenburg zu Gast. Seine Lesung beginnt um 19 Uhr im Künstlerhaus an der Elbstraße 54.
Martin Gross liest in Lauenburg aus „Ein Winter in Jakuschevsk“
Im Jahr 1998 traf die Wirtschaftskrise Russland tief ins Mark. Unrentable Betriebe, Korruption und Schattenwirtschaft hatten das Land beinahe in die Zahlungsunfähigkeit getrieben. Anleger brachten ihr Geld in Sicherheit, der Rubel stürzte ab. Präsident Boris Jelzin entließ am 23. März 1998 die Regierung des Ministerpräsidenten Wiktor Tschernomyrdin unter dem Vorwurf, er habe die wirtschaftspolitischen Probleme des Landes nicht energisch genug angegangen.
Im Mai 1998 wurde Wladimir Putin Vizechef der russischen Präsidialverwaltung. Zwei Monate später war er Direktor des Inland-Geheimdienstes. Am 9. August 1999 ernannte ihn Jelzin zum russischen Ministerpräsidenten. Was im fernen Moskau geschah, wusste in Sibirien kaum jemand so genau. Die Auswirkungen der Krise bekamen die kleinen Leute aber umso mehr zu spüren.
Wirtschaftskrise: Kohlköpfe gegen den Hunger, Wodka gegen den Frust
Martin Gross nennt die sibirische Provinzstadt, in der er damals lebte, Jakuschevsk. In Wirklichkeit seien es zwei Städte gewesen und sein Aufenthalt dauerte länger als ein Jahr, schrieb er im Klappentext des Buches. Die Handlung ist aber alles andere als fiktiv. Da ist zum Beispiel seine Kollegin Olga. Wochentags unterrichtet sie deutsche Grammatik, nach Feierabend und am Wochenende ackert sie im Garten ihrer Datscha. Überlebenskampf statt Sommerfrische, der Mangel lässt die Menschen erfinderisch werden. Das weiß der Erzähler allerdings nur aus den Gesprächen mit der Kollegin. Als er Anfang November nach Sibirien kommt, schneit es bereits, und bei seiner Abreise Ende März sind die Straßen immer noch vereist.
Für Olga steht die Sache jedenfalls fest: „Das ist doch eure verfluchte Marktwirtschaft, nach der hier jetzt alles läuft: Geld, Geld, Geld. Jeder rafft, so viel er kann. Das fängt ganz oben an, bei den Politikern. Und ganz unten müssen die Bauern ihre letzten Schweine schlachten. Die Rentner verkaufen irgendwelchen Krimskrams auf der Straße, und wer keine Arbeit hat, besäuft sich und tyrannisiert zu Hause die Familie“, schleudert sie dem Ich-Erzähler entgegen. Kohlköpfe gegen den Hunger, Wodka gegen den Frust.
Russland die westliche Bürokratie im Hauruckverfahren übergestülpt
„Vermutlich werden die Russen noch in 50 Jahren ‚westliche Werte‘ verbinden mit der Raffgier, die jetzt das Land ruiniert. Und nach diesem ganzen Desaster hätte ich auch kein besonderes Vertrauen mehr in den Westen“, zitiert der Autor aus seinen Tagebuchnotizen. Martin Gross gelingt es, die Tristesse und Einförmigkeit der sibirischen Kleinstadt so zu beschreiben, dass es keineswegs überheblich klingt. Der Leser glaubt ihm, dass er das Schrille und Grelle deutscher Städte kein bisschen vermisst.
Und doch kann er nicht aus seiner Haut. Schließlich hat er den Auftrag, Kooperationen anzubahnen. Was er den Russen dazu vorlegen muss, ist typisch deutsch: Projektanträge, Vorschriftenkataloge und Förderrichtlinien. Darin kommen Begriffe vor wie „äquivalente Studienleistung“ und „individuelle Schwerpunktsetzung“. Einführung der Bürokratie im Hauruckverfahren. Die Russen fangen an zu tricksen. Die Geldgeber aus dem Westen mahnen und kontrollieren.
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Nach Scheitern des Sozialismus den Stolz als Supermacht eingebüßt
Auch durch solche eher kleinen Begebenheiten kann der Leser der Überzeugung des Autors folgen: „Die Osteuropäer haben nach dem Scheitern des Sozialismus ihren Nationalstolz wiederentdeckt. Die Russen dagegen haben mit dem Scheitern des Sozialismus ihren Stolz als Supermacht eingebüßt“, schreibt er. Das Jahr 1998, das er in Sibirien verbrachte, ist für Martin Gross das Jahr, in dem Russland begann, sich vom Wesen abzuwenden. Und es ist das Jahr, in dem Putins steiler Aufstieg begann.
Durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine bekommen die damaligen Tagebuchaufzeichnungen von Martin Gross eine neue Dimension. Ihm gelingt der Spagat, die gedemütigte russische Seele zu beschreiben, ohne die Kriegsverbrechen zu relativieren. Literaturkritiker Tobias Lehmkuhl schreibt in seiner Rezension für den Deutschlandfunk: „Dem Tagebuchschreiber geht es nicht darum, irgendjemandem die Schuld zuzuschieben. Er zeigt nur auf, was alles schiefgelaufen ist und was niemals funktionieren konnte.“