Von SYLVIA WANIA

Was ist Russland nicht alles prophezeit worden: Chaos, Anarchie, Untergang. In dieses Szenario passt die Warnung des Moskauer Zentralbankchefs Gerastschenko, das Land blute angesichts ungeheurer Kapitalflucht aus. Ganz anders dagegen der Währungsfonds. IWF-Direktor Camdessus sieht Russland auf Wachstumskurs: Die Steuereinnahmen seien gestiegen, die Staatsausgaben gesenkt und die Inflation wieder unter Kontrolle. Also was denn nun? Zunächst machen beide, Gerastschenko und Camdessus Politik für sich selbst und lenken von der Sache ab. Der Zentralbankchef, der IWF-Forderungen nach mehr Transparenz eben noch als "politisch motivierte Nörgelei" kritisierte, will vergessen machen, dass sein Institut im jüngsten Geldwäsche-Skandal kräftig mitgemischt hat. Dem IWF wiederum ist auf die Frage, warum er seine Kredite nicht besser kontrolliert, auch noch keine schlüssige Antwort eingefallen.

Die Wahrheit liegt, wie sooft, dazwischen. Natürlich gibt es Anzeichen für eine Erholung der russischen Wirtschaft, zumal diese mit der Rubelabwertung 1998 im tiefsten Tal angelangt schien. Zugleich aber ist das Vertrauen der Finanzwelt - und Investititionen sind nun einmal Zeichen des Vertrauens - in Russland zutiefst erschüttert. Offenbar versteht das offizielle Moskau (an der Verschiebung von 15 Milliarden Dollar ins Ausland waren 780 Staats- und Bankbedienstete beteiligt) sowie die russische Mafia unter Marktwirtschaft vor allem dies: Jeder bereichert sich, so gut er kann. Und für die sooft versprochenen Reformen zeichnet niemand verantwortlich.

Wer die Zeche am Ende zahlt? Russlands Bevölkerung, die immer mehr in Elend und Armut abgleitet.