Boizenburg. Am Anfang war unheimliches Kribbeln - jeden Tag auf dem Weg in die Redaktion. Die lag gut Kilometer hinter der Grenzkontrollstelle Lauenburg/Horst auf dem Gebiet der DDR.

Würde ich je wieder zurückkommen? Wie gehen die Boizenburger mit einem westlichen Journalisten um?

Am 12. März 1990 startete ein Wagnis: Die bis heute einzige "Auslandsredaktion" unserer Zeitung. Sieben Monate vor der Wiedervereinigung begannen wir, täglich aus Boizenburg zu berichten: Eine Auswahl ist auf dieser Doppelseite nachzulesen. Die Berichte mauserten sich schnell zur Lieblingslektüre vieler Stammleser: Während die Boizenburger zögerlich zur "Lauenburgischen Landeszeitung" griffen, genossen die Wessis den täglichen Blick auf die damals noch so andere Welt.

Für uns Journalisten wurden die Jahre zu den spannendsten unserer Laufbahn. Das begann damit, dass die Volkspolizisten zuerst jeden kritisch beäugten, der es wagte, Fragen zu stellen. Und dann ließ uns die 13 000-Einwohner-Stadt live miterleben, was Wiedervereinigung und D-Mark anrichteten. Zuerst die Hoffnung, dass die "blühenden Landschaften" Wirklichkeit würden. Die Sanierung der malerischen Altstadthäuser begann, die verstopfte Kanalisation wurde modernisiert.

Bald kamen Spekulanten, Versicherungsvertreter und "Experten" der Treuhand. Die waren kaum den Universitäten entwachsen, sollten aber Großbetriebe fit machen für die Marktwirtschaft. Bald wuchs die Zahl derer, die in dem Zusammenhang von "Vereinigungskriminalität" sprachen oder vermuteten, es ginge darum, unliebsame Konkurrenz auszuschalten. Die Fliesenwerke (1500 Mitarbeiter), die zu DDR-Zeiten erfolgreich "für den Weltmarkt" produzierten, wurden an einen italienischen Konkurrenten verhökert. Der nahm die Kunden - ließ die Arbeitslosen zurück.

Die hochmoderne Elbe-Werft (2100 Mitarbeiter) kämpfte Jahre ums Überleben. Und gegen EU-Vorgaben, die ihr genau den Bau der Schiffe verwehrte, mit denen sich die Werft einen Namen gemacht hatte. Als sie an einen Unternehmer von der Unterweser verkauft wurde, der weniger mit Schiff- als mit Wasser- und Schleusenbau befasst war, ging die 200-jährige Geschichte des Boizenburger Schiffbaus zu Ende. Derweil wuchsen um Boizenburg prächtig beleuchtete Gewerbegebiete aus dem Boden, sorgten aber auch Betriebe wie die Gummi Bear Factory für neue Arbeitsplätze.

Boizenburgs Politiker mühten sich, viele fanden sich überraschend schnell in demokratischen Verfahren zurecht. Es gab aber auch Stasi-Fälle. Über Jahre hielten sich Gerüchte, Bürgermeister Dr. Uwe Wieben sei "IM" gewesen. Als dies Gewissheit wurde, verschwand der vormalige Museumschef von der Bildfläche.

Bis September 1993 haben wir den Weg Boizenburgs von der DDR in die Bundesrepublik begleitet. Es war eine aufregende Zeit.