Lauenburg. Sie haben Judenverfolgung und Krieg erlebt. In der Albinus-Schule gab es emotionale Momente, als die Senioren berichteten.
Der 9. November 1938: Vom nationalsozialistischen Regime organisiert und gelenkt, stecken in der Reichspogromnacht und den folgenden Tagen Schergen der SA und der SS etwa 1400 Synagogen, Betstuben und Versammlungsräume jüdischer Menschen in Brand. Ihre Geschäfte und Wohnungen werden zerstört, Friedhöfe geschändet. Juden werden aus ihren Wohnungen, aus Kinder- und Altenheimen verschleppt, in Konzentrationslager deportiert und später ermordet. Und ihre Nachbarn? Wie haben sie dies erlebt?
Die Schüler der Lauenburger Albinus-Schule wollten das wissen, luden Zeitzeugen ein, von ihrer Kindheit und Jugend in der Zeit des Naziregimes und des Krieges zu berichten. 260 Schüler hatten sich dafür jetzt im Forum der Schule versammelt. Die Erzählungen von Lisa Schomburg (92) und Claus Günther (91) aus Harburg und Manfred Hüllen (83) aus Düsseldorf bewegten.
Zeitzeugen berichten in der Albinus-Schule über Judenverfolgung und Krieg
„Ich war begeistert, in der Hitlerjugend mit anderen zusammen zu sein“, berichtete Lisa Schomburg. Die Zehnjährigen maßen ihre Kräfte etwa beim Sport. Sie mussten die Lebensgeschichte Hitlers auswendig lernen und verehrten ihn. „Ich wusste, dass meine Eltern gegen Hitler waren, aber ich wollte es nicht akzeptieren. Heute ist das gar nicht mehr zu verstehen“, sagte sie. Heute erhebt sie ihre Stimme, mahnt vor Nationalismus und Krieg.
Ebenso erging es Claus Günther, dessen Vater vorneweg marschierte, als die SA die Synagoge in seinem Wohnort zerstörte. „Ich war sehr stolz auf meinen Vater“, sagte Günther. Später beschimpfte er eine jüdische Familie auf der Straße. „Mein Freund klopfte mir auf die Schulter und raunte mir zu: Das musst du nicht tun, das sind doch auch Menschen!“ Da schämte er sich. „Ich werde mich bis ans Ende meines Lebens schämen“, sagte Günther und erzählte, dass die Nachbarsfamilie deportiert und ermordet wurde.
Von Gewalttaten gegen Juden weiß auch Manfred Hüllen. „Die Synagoge war 80 Meter von der Arbeitsstelle meiner Mutter, einem Bettengeschäft, entfernt. Nachdem die SA-Männer die Synagoge in Brand gesteckt hatten, schlugen sie das Geschäft kurz und klein“, hat er erfahren. Die Besitzer, eine jüdische Familie, war zuvor aus dem Laden verschwunden. Später fand man ihre Leichen in einem Gewässer in der Nähe.
Die Schwester von Manfred Hüllen kam bei Tieffliegerangriff ums Leben
„Wie haben Sie den Krieg erlebt, haben Sie Angehörige verloren?“, fragte Schülersprecher Noah Wengorra, der gemeinsam mit Soraya Noronzi aus der Schülervertretung das Gespräch moderierte. Es war einige Sekunden still, ehe Manfred Hüllen antwortete: „Wir wurden aus Düsseldorf evakuiert und mussten nach Thüringen.“ In der Nähe von Jena erlebten sie einen Tiefflieger-Angriff. „Es war furchtbar. Wir flogen auf den Bürgersteig und blieben dort liegen…“, erzählte Hüllen mit stockender Stimme. Unter Tränen erinnerte er sich dann: „Ich sagte zu meiner Mutter: Weck’ doch mal die Ursula!“ Doch seine Schwester Ursula wachte einfach nicht auf. Sie war tot.
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Es war einer der besonderen Momente dieses Zeitzeugengesprächs, als dem 83-Jährigen die Stimme versagte und Soraya Noronzi ihn tröstete: „Es ist okay, dass sie traurig sind“, sagte die 16-Jährige.
Es vergehe kein Tag, an dem er nicht an seine Schwester denke, sagte Manfred Hüllen: „Ich bin zu hundert Prozent Pazifist. Krieg ist die größte Scheiße, die die Menschheit machen kann!“, rief er den Jugendlichen zu und erinnerte mit Blick auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine an die Einzelschicksale von Millionen Menschen: „Der Tod hält Einzug in ihrem Leben. Sie müssen jeden Tag Angst haben.“
Eindringliche Mahnung: „Zeigt Haltung und denkt logisch. Geht gegen Hass an“
Die Zeitzeugen, die weiterhin in Deutschland unterwegs sein werden, um über ihr Leben zu berichten, legen ihre ganze Hoffnung in die Jugendlichen. „Zeigt Haltung und denkt logisch. Geht gegen Hass an. Es darf keine Kriege mehr geben“, mahnte Manfred Hüllen.
Die Zeitzeugen haben Geschichte greifbar gemacht, resümierten viele Jugendliche. Im Unterricht werden sie in den nächsten Tagen die Gespräche nochmals Revue passieren lassen, über die Pogromnacht und den Nationalsozialismus sprechen und sich austauschen, wie sie Hass und Verachtung von Menschen entgegentreten.