Aumühle. Kerstin Kleenworth war 20 Jahre lang adipös. Abgenommen hat sie „fast ohne Sport“. Nun schreibt sie ein Buch.

„Boah, hast du abgenommen.“ Solche Sätze hört Kerstin Kleenworth in letzter Zeit öfter. Vor allem von Menschen, die sie lange nicht gesehen haben. 50 Kilo hat die 54-Jährige in den vergangenen 18 Monaten verloren. „Fast ohne Sport“, antwortet sie dann. Was wie ein Scherz klingt, verschleiert eine lange Leidensgeschichte.

Kerstin Kleenworth war 20 Jahre ihres Lebens stark übergewichtig oder adipös, wie es offiziell heißt. 20 Jahre hat sich die Aumühlerin wegen ihrer Körperfülle geschämt, mochte sich selbst nicht leiden. Wie viel sie zu Höchstzeiten auf die Waage brachte, mag sie nicht sagen. Fotos aus der Zeit gibt es kaum. Nur so viel: „Ich war endlich dick genug, dass die Krankenkasse einer Magenverkleinerung zugestimmt und die Kosten übernommen hat.“ Im März 2021 wurde ihr Magen operativ verkleinert und sein Fassungsvermögen verringert. Der Weg dorthin war lang.

Übergewicht: Nach der dritten Schwangerschaft immer mehr Kilos

„Endlich dick genug“ ist auch der Titel ihres Buches, an dem sie gerade schreibt. Darin erzählt sie ihre Geschichte, „um anderen Übergewichtigen Mut zu machen“. Kleenworth kennt die Vorurteile gegenüber Dicken. „Ihnen wird unterstellt, faul und maßlos zu sein, sich nicht im Griff zu haben“, sagt Kleenworth. Sie hatte diese Vorurteile früher selbst, als sie noch schlank war. Kleenworth ist in Hamburg aufgewachsen, hat viel Tennis gespielt und Ballett getanzt. Gesundes Essen war eine Selbstverständlichkeit in ihrer Familie.

„Nach der Geburt meines dritten Kindes ging es los. Ich bin das Schwangerschaftsgewicht einfach nicht mehr losgeworden und habe stattdessen bei gleichem Essverhalten immer weiter zugenommen“, sagt sie. Die Ursache dafür konnte kein Arzt finden. Auch die unzähligen Diäten, die sie ausprobiert hat, waren von keinem großen und langfristigen Erfolg gekrönt: „Mehr als zehn Kilogramm waren nie runter und nach kurzer Zeit wieder drauf. Frustrierend.“

Erfahrungen, die viele Patienten von Professor Till Hasenberg, Chefarzt für Adipositas- und Metabolische Chirurgie am Adipositas-Zentrum West in Oberhausen, machen. Für sie ist eine Adipositas-Operation oft der letzte Ausweg. „Adipositas ist eine Krankheit, kein ‚Lifestyle‘. Sie kann vielfältige Ursachen haben und ist behandlungsbedürftig“, sagt der Chefarzt. Als Ursache für Fettleibigkeit werden zu etwa 70 Prozent die Genetik und zu 30 Prozent externe Faktoren definiert. Allein in Deutschland ist ein Viertel der Bevölkerung von krankhaftem Übergewicht betroffen.

Im ersten Anlauf für eine OP noch nicht dick genug

Kerstin Kleenworth bemühte sich zum ersten Mal vor zwölf Jahren um eine Magenverkleinerung – und wurde wieder nach Hause geschickt. „Ich war nicht dick genug“, schüttelt sie verständnislos den Kopf darüber, dass einem nicht geholfen wird, wenn man es möchte.

Krankenkassen übernehmen die Kosten für eine Magenverkleinerung in Höhe von bis zu 15.000 Euro zuzüglich einer umfangreichen Nachsorge erst, wenn der Patient schon mehrere Jahre stark übergewichtig ist, sein Body-Mass-Index höher als 35 ist, herkömmliche Therapien erfolglos blieben und es Begleiterkrankungen wie Diabetes oder Gelenkerkrankungen gibt.

Kleenworth hält die Hürden für zu hoch, „wenn die Entwicklung absehbar ist und die Patienten leiden.“ Sie macht sich stark für eine schnellere Kostenübernahme. „Warum die Menschen unnötig lange leiden lassen?“, fragt sie. Denn das war es: Sie fühlte sich in ihrem Körper eingesperrt wie in einem Turm, mied unnötige Treppen und die Öffentlichkeit, und machte sich darüber Gedanken, in welchem Supermarkt die Gänge breit genug für sie waren. „Als Dicker fühlt man sich ständig beobachtet. Ich war sehr unglücklich und des Lebens müde“, sagt sie. Als Gegenüber erschrickt man bei diesen Worten sehr, denn man erlebt die Aumühlerin als zupackend und lebensfroh. Ihr Telefon klingelt öfter während des Interviews. Sie hat ein großes Netzwerk an Freunden und Unterstützern, und sie hat ein großes Herz. Kleenworth organisiert ehrenamtlich und mit großem Einsatz Hilfstransporte in die Ukraine und hat dafür in diesem Jahr den Bergedorfer Bürgerpreis erhalten.

Nach der OP: Sie verzichtet auf nichts außer auf Alkohol

Seit vergangenen März habe sie ihre innere und äußere Leichtigkeit wieder zurück. Treppen, Türme oder lange Spazierengänge sind jetzt kein Problem mehr. Ganz ungefährlich sind die operativen Eingriffe aber nicht: Vier von fünf Operierten haben dauerhafte Beschwerden wie Sodbrennen, Bauchschmerzen, Blähungen, Übelkeit und Völlegefühl, auch Nährstoffmangel treten häufig auf. „Ist bei mir alles nicht der Fall. Ich habe die OP gut verkraftet, meine Diabetes ist verschwunden. Ich vertrage jetzt sogar wieder Milchprodukte.“ Außer auf Alkohol verzichtet sie auf nichts und greift in die Schale mit den selbst gebackenen Lebkuchen: „Das ist für mich Lebensfreude.“

Genuss ja, aber in Maßen: „Diszipliniert sein bis zum Lebensende, darauf kommt es jetzt an“, sagt Kleenworth. Viel kann sie aber sowieso nicht mehr essen. Das Sättigungsgefühl setzt schnell ein. Anfangs purzelten die Kilos schnell, jetzt stagniert das Gewicht. Wo genau, kann sie nicht sagen. Sie steigt fast nie auf die Waage. Sie weiß und akzeptiert, dass sie nie eine Modelfigur haben wird. „Damit bin ich aber nicht allein.“ Sie will anderen – auch den Schlanken – Mut machen, „dass es nicht auf eine Zahl, sondern allein auf das Wohlfühlgewicht ankommt.“