Geesthacht. Nicole Dieringer aus Geesthacht fährt Busse bei den VHH. Dass sie gehörlos ist, bekommen die meisten ihrer Fahrgäste gar nicht mit.

Mit irgendwas war der Fahrgast im Linienbus von Nicole Dieringer unzufrieden. Offenbar hatte er schon eine Weile im hinteren Bereich geschimpft, als er plötzlich vor ihr stand. „Sind sie taub oder was?“, blökte der verärgerte Mann. Woraufhin die 41-Jährige aus Geesthacht trocken antwortete: „Ja, bin ich.“ Seit 2021 fährt die alleinerziehende zweifache Mutter für die Verkehrsbetriebe Hamburg-Holstein (VHH). Dass sie gehörlos ist, bekommen die meisten Fahrgäste gar nicht mit.

„Ich höre mit den Augen“, sagt Nicole Dieringer. Sie kann von den Lippen lesen und weiß meist schon an der Körpersprache, in welcher Stimmung ihr Gegenüber ist. Überhaupt sind anderen Sinne bei ihr viel stärker ausgeprägt. Mit den Füßen fühlt sie Vibrationen im Boden, zudem schaut sie viel häufiger in die Seitenspiegel als Hörende. Für Argumente wäre der pöbelnde Fahrgast aber wohl ohnehin nicht empfänglich gewesen. Stattdessen verabschiedete er sich mit den Worten: „Das ist doch unverantwortlich, wenn sie Bus fahren.“

VHH Geesthacht: Taube Busfahrerin hört „mit den Augen“

Ist es nicht! Ob schwerhörige oder gehörlose Menschen in Deutschland ein Kraftfahrzeug führen dürfen, ist in der Fahrerlaubnis-Verordnung geregelt. Bedingung für den Erwerb eines Führerscheins ist, dass nicht gleichzeitig weitere schwerwiegende Beeinträchtigungen vorliegen. Dafür wird ein Gutachten eines Hals-Nasen-Ohren-Arztes benötigt. „Außerdem ist laute Musik im Auto ja auch erlaubt. Gucken diese Leute dann auch mehr in den Rückspiegel?“, fragt Dieringer.

„Belastbarkeit, Reaktionsschnelligkeit, Augenradius – Frau Dieringer musste alle Prüfungen wie die anderen Kollegen machen“, betont VHH-Pressesprecherin Janina Rautenstrauch-Ulbricht. Hätte der Arbeitgeber Zweifel an ihrer Tauglichkeit gehabt, hätte er sie wohl gar nicht erst den 12.000 Euro teuren Busführerschein machen lassen. Dieringer: „Der Fahrlehrer muss mir nur rechtzeitig vorher sagen, wo ich hinfahren soll.“

Bei 2500 Mitarbeitern die einzige gehörlose Busfahrerin der VHH

Von den rund 2500 Mitarbeitern bei den VHH sind 1742 Busfahrer (Stand Mitte Oktober). Nicole Dieringer ist die einzige gehörlose Kollegin. „Wir sind aber ein sehr offenes Unternehmen und haben die Charta der Vielfalt unterschrieben“, sagt die HVV-Sprecherin. So sind zum Beispiel auch Autisten beschäftigt.

Bei Nicole Dieringer wurde mit drei Jahren festgestellt, dass sie von Geburt an hörgeschädigt ist. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch 50 Prozent Hörfähigkeit auf jedem Ohr. Als Kind besuchte sie die damalige Schwerhörigenschule Hamburg, wo sie lernte, Lippen zu lesen. Was ihr heute zugutekommt. Denn mit etwa 20 Jahren verschlechterte sich nach und nach ihr Gehör. „Das habe ich aber so richtig erst wahrgenommen, als ich ganz taub wurde“, erzählt die in Bad Reichenhall geborene 41-Jährige. Genau genommen verfügt sie auf einem Ohr noch über fünf Prozent Resthörvermögen.

Hörimplantat per Magnet am Kopf befestigt

Im November 2020 entschloss sie sich auf dem völlig tauben Ohr für ein sogenanntes Cochlea-Implantat. Das ist eine Prothese im Kopf und eine per Magnet von außen am Kopf befestigte Sendespule. Der Akku dafür hält zwölf Stunden. „Über einen Draht werden Töne empfangen und gesendet“, erklärt Nicole Dieringer. An der Operation war ein medizinischer Ingenieur beteiligt, der die Frequenzen grob einstellte.

Später ging es dann ans Feintuning – ein langwieriger Prozess. „Das Rauschen, der Klang – man hört komplett anders“, sagt Dieringer. Auf eine OP am zweiten Ohr verzichtete sie bislang. „Es ist nicht sicher, ob es funktioniert und das Risiko, dass es mit zwei Implantaten schlechter ist als mit einem, besteht auch“, sagt die Mutter eines 13-jährigen Mädchens und eines elfjährigen Sohnes.

Wegen der Einschränkung nur für einen Putzjob geeignet

Nach der OP war sie bereit, auch beruflich durchzustarten. Mit 17 Jahren hatte sie eine Ausbildung und Lackiererin aus anderen gesundheitlichen Gründen abgebrochen. Danach bekam sie über den Jobcenter lange keine Arbeitsangebote. „Es hieß, wegen meiner Einschränkung wäre ich nur für einen Putzjob geeignet. Aber ich habe lange gekämpft“, so Dieringer.

Schließlich wurde sie auf das Stellengesuch der VHH aufmerksam. „Der Mann meiner Freundin ist auch Busfahrer, der hat mich ermutigt. Nach dem Motto: Wenn du Autofahren kannst, kannst du auch Busfahren.“ Dennoch gab es auch hier zunächst eine Absage. Doch Dieringer ließ nicht locker.

Sogar die Kommunikation mit der Leitstelle über Funk ist möglich

Inzwischen ist nach einem Hörtraining sogar die Kommunikation mit der Leitstelle über Funk möglich. „Wenn laut und deutlich gesprochen wird und es möglichst wenig Nebengeräusche gibt. Generell ist es drinnen besser als draußen. Im Bus ist es aber auch schwierig“, sagt Nicole Dieringer, die mit dem Autor dieser Zeilen eine ganz normale Unterhaltung führte.

Bei den Fahrgästen würde sie wegen der Nebengeräusche im Bus meist von den Lippen ablesen. Bei manchen könne sie auch anhand des passend hingelegten Geldbetrages schlussfolgern, welche Fahrkarte gewünscht ist. Wobei diese Option zum 1. Januar wegfällt, wenn in Hamburg die Barzahlung abgeschafft wird. „Und wenn es absolut nicht geht, gibt es im Notfall ja auch noch Stift und Zettel“, ergänzt Dieringer.

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Nachdem regionale TV-Sender über die taube Busfahrerin berichtet hatten, wurde sie von einem weiblichen Fahrgast erkannt. „Sie fand meine Geschichte toll und hat sich für die angenehme Fahrt bedankt. Davon könnten sich andere eine Scheibe abschneiden“, berichtet Dieringer mit einem Lächeln. Vielleicht wird sie nun ja noch häufiger erkannt. Meist ist sie auf Linien in Geesthacht, Bergedorf oder Rahlstedt unterwegs und wird auch dann wieder häufiger als andere Verkehrsteilnehmer in den Rückspiegel schauen. Schließlich hört sie mit ihren Augen.