Schwarzenbek. Seelisch oder geistig beeinträchtigte Menschen arbeiten ohne Angst. Wie der Spagat zwischen Produktivität und Reha gelingt.

In der Röntgenstraße in Schwarzenbek herrscht geschäftiges Treiben. In dem Industriegebiet sind nicht nur eine Autowerkstatt, eine Gärtnerei und eine Dachdeckerei ansässig, sondern auch die Räumlichkeiten der Schwarzenbeker Werkstätten. Dort sitzen einige der 60 Angestellten mit gesenktem Kopf über Pappformen. „Aktuell bereiten wir hier Verpackungen für Weihnachtsgebäck vor“, berichtet Werkstattleiter Benedikt Kindermann. Unternehmen wie Bäckereien lassen in den Werkstätten Verpackungen für ihre Waren anfertigen. Die Mitarbeiter blicken kaum auf und sind in ihre Arbeit vertieft.

Mischung aus Produktion und Reha

Menschen, die in den Schwarzenbeker Werkstätten arbeiten, sind nicht voll erwerbsfähig. „Alle, die hier tätig sind, würden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weniger als drei Stunden arbeiten“, sagt Benedikt Kindermann. Dies kann an einer seelischen oder geistigen Beeinträchtigung liegen. In den Werkstätten sind sie jedoch Vollzeit tätig. Dabei sind die Arbeitstage klar strukturiert. Knapp zwei Stunden nach Schichtbeginn steht das Frühstück an, dann wieder zwei Stunden Arbeit, ehe es zum Mittag geht. Das Besondere: Auch Pausenzeiten gehören zur Arbeitszeit. „Wichtig ist, dass dem Menschen hier Struktur gegeben wird. Wir schaffen hier einen spannenden Spagat zwischen Produktion und Reha“, sagt Kindermann.

Ein Spagat ist es, da auch die Auftraggeber aus der freien Wirtschaft Interesse daran haben, dass ihre Aufträge zu einem bestimmten Preis und zügig angefertigt werden. „Ein Erwerbsunternehmen wählt seine Angestellten nach deren Fähigkeiten aus“, gibt Kindermann zu bedenken. Die Werkstätten müssten jedoch Aufgaben suchen, die zu den Fähigkeiten der Mitarbeiter passen. Dabei könne es durchaus passieren, dass es an der einen oder anderen Stelle ruckelt. „Das Tempo bestimmen am Ende die Menschen hier selbst“, sagt er. Daher sitzen Kindermann und seine Kollegen auch nach dem eigentlichen Feierabend manchmal noch zusammen und basteln Keksverpackungen oder andere Waren fertig.

Werkstätten sind Fangnetz für die Angestellten

Dabei teilen sich die 60 Angestellten an der Röntgenstraße und die 30 im Lupuspark in verschiedene Arbeitsbereiche auf. Jeder, der bei den Schwarzenbeker Werkstätten anfängt, solle die Möglichkeit haben, die richtige Beschäftigung zu finden. „Wir haben neben der Verpackung auch einen Eventservice, eine Näherei und auch eine Archivierung“, sagt Kindermann.

Auf dem Gelände der Schwarzenbeker Werkstätten an der Röntgenstraße gibt es verschiedene Arbeitsbereiche wie eine Näherei, eine Verpackungseinheit und einen Eventservice.
Auf dem Gelände der Schwarzenbeker Werkstätten an der Röntgenstraße gibt es verschiedene Arbeitsbereiche wie eine Näherei, eine Verpackungseinheit und einen Eventservice. © Marc Nasner | Marc Nasner

Die wichtigste Funktion der Werkstätten sei, dass sie für ihre Klienten eine Art Fangnetz darstellen, das Strukturen im Alltag bietet. Einer, der diese Fangnetz-Funktion sehr schätzt, ist Tom Schumacher. Eigentlich habe er eine Ausbildung zum Lageristen gemacht und diese auch bestanden, erzählt er. Bei der Arbeit sei er aber manchmal mit Zahlen überfordert gewesen. „Da wurde dann gefragt, wieso der Junge das nicht kann“, erzählt er. Dass das bei Kollegen auf Unverständnis stieß, sei nicht einfach gewesen. „Hier in den Werkstätten weiß ich morgens aber, was mich erwartet und dass ich damit umgehen kann.“ Das würde ihn und auch viele seiner Kollegen beruhigen. „Draußen“ herrsche ein ganz anderer Stress.

Kritik der schlechten Bezahlung

Dennoch wünscht sich Tom Schumacher, eines Tages nochmal eine Arbeitsstelle außerhalb der Werkstatt anzunehmen. Er wisse, dass er in der Werkstatt zu den Leistungsstärksten gehört. „Bis zur Rente möchte ich deswegen nicht hier arbeiten“, sagt er. Zwar habe er schon ein Praktikum in einem Kindergarten gemacht, dort sei es aber auch sehr laut gewesen und vielleicht ein wenig zu viel Stress für ihn. „Deswegen ist das hier ein wichtiger Anker“, sagt er.

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Leiter Benedikt Kindermann ist sich dessen bewusst, dass Werkstätten häufig vorgeworfen wird, dass sie ihre besten Mitarbeiter behalten wollen, um Aufträge erfüllen zu können. Auch heißt es dann, dass sie nicht gut bezahlen würden. Von einer Art Systemerhalt ist die Rede. Dies stimme aber nur bedingt. „Es gehen immer mindestens 70 Prozent der Erlöse der Arbeit an die Angestellten“, sagt er. Das sind zwischen 200 und 300 Euro. Wenn die Auftragslage schlecht ist, würde sogar mehr ausgeschüttet werden, als eingenommen wurde.

Jährlicher Aktionstag „Schichtwechsel“

Außerdem würden Werkstatt-Angestellte einige Privilegien genießen, wie eine vergleichsweise hohe Rente. Würden sie in die freie Wirtschaft wechseln, seien die Bezüge im Alter dann geringer. Zudem unterstütze der Staat die Angestellten bei der Finanzierung einer Mietwohnung.

Anfang Oktober nehmen jährlich bundesweit Werkstätten am Aktionstag Schichtwechsel teil. Dieses Jahr beteiligten sich am 12. Oktober rund 3000 Arbeitnehmer an der Aktion: 1550 Werkstattbeschäftigte und 1430 Mitarbeiter aus dem ersten Arbeitsmarkt. Die Schwarzenbeker Werkstätten haben dieses Jahr pausiert. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales möchte mit der Aktion ein Zeichen für die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung setzen.