Winsen. Die Tester nahmen es mit Humor: Das sind echte Hürden und sinnlose Maßnahmen zur Barrierefreiheit – am Beispiel der Kreisstadt.

„Das ist ja geil!“, ruft der Postbote, der sein voll bepacktes gelbes Fahrrad eben noch über die Leitlinien auf Winsens Rathausstraße gelenkt hat. Dass diese Leitlinien auf dem Gehweg nicht bloß optisches Element der Pflasterung sind, sondern sehbehinderten Menschen als Orientierungshilfe dienen sollen, habe er gar nicht gewusst, sagt er. Matthias Lünzmann, Mitglied des Inklusionsbeirats des Landkreises Harburg, hat ihn gerade eben kurzerhand über die Funktion aufgeklärt. So schnell, so gut – beide schlagen ein und schon ist ein wenig mehr Sensibilität geschaffen.

Ebendiese Sensibilität fehle vielen Menschen, sagt Lünzmann. Die Sehkraft des Buchholzers ist eingeschränkt, weswegen er seine Augen hinter dunklen Gläsern verbirgt, streckenweise muss er sich bei einem Spaziergang durch Winsens Innenstadt auf seinen Blindenstock verlassen. Doch dieser wird nutzlos, wenn es keine Orientierungshilfe gibt.

Matthias Lünzmann (Mitte), Mitglied des Inklusionsbeirats des Landkreises Harburg, erklärt einem Mitarbeiter der Deutschen Post, wofür die Leitlinien auf dem Bürgersteig da sind.
Matthias Lünzmann (Mitte), Mitglied des Inklusionsbeirats des Landkreises Harburg, erklärt einem Mitarbeiter der Deutschen Post, wofür die Leitlinien auf dem Bürgersteig da sind. © Helena Davenport | Helena Davenport

Mit ihren Leitlinien ist Winsen Vorbild in der Region

In Winsen gebe es immerhin Leitlinien, betont Lünzmann, die Kreisstadt sei in diesem Punkt ein Vorbild für andere Städte in der Region. Aber das Leitsystem, das aufwendig mit Steuergeldern geschaffen wurde, nütze niemandem etwas, wenn keiner wisse, wozu es da ist. So stellen Ladenbetreiber beispielsweise Blumenkübel auf die Linien, und andere parken ihre Autos oder Fahrräder genau dort, wo die Linien sehbehinderte Menschen entlang führen sollen.

Viele Ladenbetreiber in Winsen stellen Blumenkübel auf die Leitlinien.
Viele Ladenbetreiber in Winsen stellen Blumenkübel auf die Leitlinien. © Helena Davenport | Helena Davenport

Um mehr Aufmerksamkeit für mögliche Barrieren im Alltag zu schaffen und Lösungen aufzuzeigen, die ein selbstbestimmtes Miteinander möglicher machen könnten, bespielt das „Netzwerk barrierefrei leben im Landkreis Harburg“ am kommenden Dienstag, dem 30. April, den Platz vor dem Winsener Rathaus in der Fußgängerzone mit buntem Programm und Musik. Anlass gibt der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen am 5. Mai.

Viele Marktstände in Winsen stehen mitten auf den so gut gedachten Leitlinien

Ellen Kühn, Vorsitzende des Elternvereins Lebenshilfe Harburg, weiß zu gut um die Hürden des Alltags.
Ellen Kühn, Vorsitzende des Elternvereins Lebenshilfe Harburg, weiß zu gut um die Hürden des Alltags. © Helena Davenport | Helena Davenport

Dass die Veranstaltung mit dem Winsener Wochenmarkt auf einen Tag fällt, ist bewusst gewählt. Denn viele Marktverkäuferinnen und -verkäufer positionieren ihre Stände genau da, wo die Leitlinien verlaufen, weil sie es – so wie der Postbote – nicht besser wissen, viele Wege sind versperrt.

„Das ist eine Absurdität: Dann wenn die Nahversorgung möglich wäre, gibt es noch mehr Barrieren“, sagt Ellen Kühn, Vorsitzende des Elternvereins Lebenshilfe Harburg, der genauso wie der Inklusionsbeirat des Landkreises auch zum genannten Netzwerk gehört. Als Mutter einer mittlerweile erwachsenen, mehrfach schwerbehinderten Tochter weiß sie zu gut um die Hürden des Alltags.

Menschen mit einer Sehbehinderung wie Matthias Lünzmann sind auf ein Leitsystem angewiesen. Wenn ein Marktstand direkt an den Leitlinien oder womöglich darauf positioniert ist, kann das stören.
Menschen mit einer Sehbehinderung wie Matthias Lünzmann sind auf ein Leitsystem angewiesen. Wenn ein Marktstand direkt an den Leitlinien oder womöglich darauf positioniert ist, kann das stören. © Helena Davenport | Helena Davenport

Viele Barrieren sind für gesunde Menschen unsichtbar

Das Netzwerk, zu dem insgesamt sechs Vereine, Träger und Institutionen sowie eine Vielzahl Einzelpersonen gehören, hat sich im vergangenen Jahr formiert. „Wir möchten den Synergieeffekt nutzen“, sagt Kühn. Obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention bereits vor 15 Jahren in Kraft trat, stünden sie noch am Anfang, führt sie aus: „Hinter den Schreibtischen sitzen Menschen, die nicht verstanden haben, was Inklusion bedeutet.“

Auch die Mitglieder des Netzwerkes müssten immer wieder voneinander lernen, man erkenne ja nicht immer sofort die Barrieren des anderen. Und während die Barrieren eines körperlich behinderten Menschen im Stadtbild auffallen können, tun dies solche für Menschen mit einer verminderten Hörleistung beispielsweise nicht, dies sind etwa Ansagen im Bus, die zu leise sind, oder surrende Klimaanlagen, die zu nah an Sitzplätzen positioniert sind. „Wir sind gar nicht darauf aus, Gelder zu bekommen, wir brauchen zunächst ideelle Unterstützung“, fügt Kühn hinzu.

„Man hat das Gefühl, mit Füßen getreten zu werden.“

Die Ausstellung zu vorhandenen Barrieren, die das Netzwerk am 30. April präsentieren will, war zum ersten Mal sechs Wochen lang im vergangenen November im Winsener Kreishaus zu sehen. Zu dieser Zeit hätten dort besonders viele Sitzungen stattgefunden, erinnert sich Petra Kohls, Vorsitzende des Harburger Inklusionsbeirats. Sie hätten sich dann aufgeteilt, um ihr Anliegen allen Ausschüssen vorzutragen.

Teils seien die Reaktionen positiv ausgefallen, teils seien die Politikerinnen und Politiker buchstäblich an ihnen vorbeigerannt, sagt Kohls: „Man kommt sich vor wie ein Bittsteller und manchmal hat man das Gefühl, mit Füßen getreten zu werden.“

Viele Beispiele für Barrierefreiheit sind nahezu komisch

Die Buchholzerin Helena Maruska kann auf diese Rampe nicht herauffahren. Auch andere Rampen in Winsens Innenstadt sind zu steil, zu schmal, zu holprig.
Die Buchholzerin Helena Maruska kann auf diese Rampe nicht herauffahren. Auch andere Rampen in Winsens Innenstadt sind zu steil, zu schmal, zu holprig. © Helena Davenport | Helena Davenport

Wer sich ein Bild davon machen möchte, wie viele bestimmt gut gemeinte, aber dennoch nicht funktionale Beispiele für Barrierefreiheit vielerorts das Stadtbild prägen, muss wahrscheinlich nur mit aufmerksamem Blick vor die eigene Haustür treten. Einige sind geradezu komisch wie eine in die Jahre gekommene Rampe in Winsens Innenstadt, die zu mehreren Praxen führt.

Helena Maruska, die sich aufgrund ihrer Beeinträchtigungen mit einem Rollstuhl vorwärts bewegt, hat Mühe, die ersten Meter auf dem bemoosten Kopfsteinpflaster zu bewältigen, dann rollt ihr Rollstuhl auch schon zurück, weiter kommt sie nicht. Geld abheben könnte sie ebenfalls nicht einfach so – das demonstriert sie bei der Hamburger Sparkasse im Außenbereich und in der Volksbank Lüneburger Heide, beide in der Winsener Rathausstraße gelegen.

Die Automaten hängen zu hoch, Maruska kommt zwar an die Tastatur, aber jeder andere Wartende könnte ihren Kontostand mitlesen. Pluspunkt für die Sparkasse: Hier gibt es einen Kopfhöreranschluss. Matthias Lünzmann könnte hier also trotz seiner Beeinträchtigung Geld abheben.

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Das "Netzwerk barrierefrei leben im Landkreis Harburg" setzt sich für mehr Sensibilität ein. © Helena Davenport | Helena Davenport

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„Es geht darum, selbstbestimmt leben zu können.“

Petra Kohls und ihren Mitstreitenden liegt in erster Linie am Herzen, dass sich die Wahrnehmung schärft. „Es geht darum, selbstbestimmt leben zu können“, sagt Kohls, die ebenfalls Mutter eines Kindes mit Behinderungen ist. Hierfür müsste es beispielsweise Höranlagen bei öffentlichen Sitzungen geben, sodass auch Menschen mit verminderter Hörfähigkeit teilhaben können.

Und die Politik müsste sich die Zeit nehmen, ihre Maßnahmen zur Barrierefreiheit nicht nur abzuhaken, sondern funktional zu gestalten sowie entsprechende Aufklärung zu leisten. Ein Anfang ist damit getan, dass der Inklusionsbeirat nun immerhin bei der weiteren Gestaltung der Stadt Winsen miteinbezogen werden soll, ein erster Rundgang ist schon geplant. Darüber hinaus müssten alle Ämter beteiligt werden. Auch das Ordnungsamt, das am Ende dafür Sorge tragen muss, dass der Streifen nicht zugeparkt wird.

Winsens Leitsystem fungiert auch als Regenrinne

Wo mag diese Leitlinie hinführen? Matthias Lünzmann, Helena Maruska, Ellen Kühn und Petra Kohls (v.l.n.r.) sind ratlos.
Wo mag diese Leitlinie hinführen? Matthias Lünzmann, Helena Maruska, Ellen Kühn und Petra Kohls (v.l.n.r.) sind ratlos. © Helena Davenport | Helena Davenport

Dann würde Matthias Lünzmann auch keine nasse Füße bekommen. Denn möglicherweise hätte man das Leitsystem in Winsens Innenstadt nicht tiefer als den Bürgersteig angelegt und auch nicht mit Gullis versehen. Lünzmann nennt es „Regenrinne“. Man hätte die Fahrradständer und jungen Bäume nicht in unmittelbarer Nähe positioniert, sodass immer wieder Räder und künftig vermutlich auch Äste den Weg versperren.

Und man hätte die Leitlinien wohl auch weiß gefärbt, so wie es üblich ist, damit mehr Kontrast für mehr Sichtbarkeit sorgt. Matthias Lünzmann grinst: In grau sehe das System natürlich besser aus. Barrierefrei könne ein Ort sowieso nicht werden, sagt er, wohl aber barrierearm.