Faßberg. Bei Schäfer Carl Kuhlmann sind im Frühjahr schon 400 Lämmer zur Welt gekommen. Ein Besuch in der Lüneburger Heide.
- Das Frühjahr ist für Heidschnucken-Schäfer eine stressige Zeit
- Carl Kuhlmann hat das Abendblatt trotzdem empfangen und seinen Stall besuchen lassen
- Auf seinem Hof in der Lüneburger Heide sind bereits mehr als 400 Lämmer zu Welt gekommen
Der Heidschnucken Hof Niederohe liegt so weit ab, dass einen das Navi bereits mehrere hundert Meter zu früh am Ziel wissen möchte. Am Schullandheim Haus Dübelsheide, zirka 15 Kilometer von Munster entfernt, zwischen Faßberg und Unterlüß, – und gefühlt im Nirgendwo –, weiß es nicht mehr weiter. Der Heidschnuckenschäfer Carl Kuhlmann kennt das bereits und warnt seine Besucherinnen und Besucher vor ihrem Reiseantritt.
Wagt man sich tatsächlich weiter gen Osten die Straße hinab, landet man auch ziemlich schnell vor einem großen Gehege, in dem sich jede Menge Baumschnitt befindet, allerdings – so mitten am Tag – keine einzige Schnucke. Kuhlmanns Herde befindet sich längst auf ihrer alltäglichen Route. Es ist nach 10 Uhr, die Tiere haben sich gegen 7 Uhr auf ihren Weg begeben, bis 16 Uhr dürften sie unterwegs sein. Zehn bis zwölf Kilometer legen die Heidschnucken täglich zurück, auch bei Frost oder Hitze, an Weihnachten oder Neujahr.
Lüneburger Heide: Heidschnucken bekommen nur ein Lamm im Jahr
An ihrer Stelle begrüßen drei Hündinnen mit schwarzen Zotteln jeden, der über den kopfsteingepflasterten Weg von der großen Straße auf den Hof gerollt kommt. Jola, Paula und Rudi sind daheim geblieben, sie wedeln freundlich mit ihren Schwänzen. Ein vierter Hund sitzt im Auto des Schäfers, Pelle ist der einzige Rüde hier. Und je näher man an die Stallungen kommt, hört man auch die anderen Zuhausegebliebenen. Ihr hohes Blöken erinnert fast an die Laute eines Babys.
So kurz vor Ostern geht die Lammzeit langsam zu Ende. Über 400 Heidschnuckenlämmer sind bereits in diesem Jahr auf dem Hof Niederohe zur Welt gekommen. Bis zu 30 sollten in den nächsten Tagen noch nachkommen, sagt Kuhlmann: „In dieser Jahreszeit ist unsere Herde am größten.“
Heidschnucken bekommen nur ein Lamm im Jahr, selten mal Zwillinge. Das liegt vor allem an ihrer Bescheidenheit. In erster Linie dienen die Tiere der Landschaftspflege: Sie fressen die grünen Triebe der Pflanze, worauf diese mit einem Neuaustrieb reagiert und dichter wird. Außerdem fressen die Tiere die kleinen Bäume, die sich ausgesät haben und die Lüneburger Heide bedrohen. „Die Heidschnucken müssen sehr genügsam sein“, sagt Kuhlmann.
Die Heidschnucken bringen ihre Lämmer selbst zur Welt
Kuhlmanns Tiere bekommen nur ab und zu etwas, was seine Landwirtschaft abwirft. Er baut Mais, Zuckerrüben und Getreide an. Kraftfutter oder Ähnliches gibt es für die Schnucken nicht. Die Aufgabe einer Heidschnuckenschäferin oder eines Heidschnuckenschäfers sei es, die Tiere den Tag über an Orte zu führen, an denen sie sich insgesamt zweimal satt fressen können.
Auf dem Hof Niederohe bringen die Heidschnucken ihren Nachwuchs selbst zur Welt. Das sei das Natürlichste und Beste, sagt Kuhlmann. Nur in Einzelfällen bräuchten sie Hilfe durch den Menschen. Manche Lämmer kämen auch während der täglichen Route zur Welt. Dann lasse er Mutter und Junges in Zweisamkeit und hole sie auf dem Nachhauseweg mit einem Transporter ab. Es sei aber auch schon vorgekommen, dass eine Heidschnucke ihr Junges zurücklässt und selbst mit der Herde weiterzieht.
Einige Spaziergängerinnen und Spaziergänger seien schon sehr besorgt gewesen. „Das Wichtigste ist, dass man das Junge niemals anfasst“, sagt er. Die Lämmer hätten alle einen Glykogenspeicher für 24 Stunden nach ihrer Geburt, auch ohne die Mutter kämen sie also eine Zeit lang zurecht. „Leider traut man uns Tierhaltern ja nicht mehr zu, dass wir unsere Jobs gutmachen“, bedauert der Schäfer.
Einen Tag lang bleiben die Lämmer mit dem Muttertier in einer Box
Auch in der vergangenen Nacht wurden kleine schwarze Lämmchen geboren. Eines liegt noch neben seiner Mutter, die beim Näherkommen blitzartig mit weit aufgerissen Augen den Kopf hebt, um es zu schützen. Einen Tag lang bleiben frisch geborene Lämmchen zusammen mit der Mutter in einer gesonderten Box. Insgesamt fünf Wochen verbringen sie mit den Muttertieren im Stall, weil sie die zehn bis zwölf Kilometer am Tag noch nicht bewältigen könnten. Erstaunlich ist, dass sie schon nach kurzer Zeit selbstständig stehen.
Seit 32 Jahren ist Kuhlmann Heidschnuckenschäfer, in Göttingen hat er zuvor Agrarwissenschaften studiert. Den elterlichen Hof betreibt der Sechzigjährige gemeinsam mit seiner Frau, die allerdings noch andere Verpflichtungen hat. Sie sei voll berufstätig, helfe aber, wo sie könne, sagt Kuhlmann. Anders als die Schäferinnen und Schäfer, die bei der Stiftung Naturschutzpark Lüneburger Heide angestellt sind, ist das Paar allein für den Erhalt von Hof und Tier verantwortlich.
500 Mutterschafe besitzt das Schäferpaar. Diese Größe will es nicht überschreiten, um die artgemäße Haltung nicht zu gefährden. Heißt: Was hinzukommt, verlässt den Hof auch wieder. Die jüngsten Schafe werden im Alter von neun Monaten zur Schlachtung gegeben, Ältere auch noch mit sieben Jahren.
Nur ein Bock ist bei der Herde
Außerdem leben in der Regel fünf Zuchtböcke auf Kuhlmanns Hof, gerade sind es mehr. Sie grasen auf einer Weide hinter dem Hof, denn nur ein einziger Bock darf täglich mit den Damen auf Wanderschaft gehen. Die Hörner der Böcke erscheinen schon aus der Entfernung prächtig, einige sind fast zweifach gewunden. „Menschen hatten nie eine Verwendung für das Horn, deswegen wurde es nie weggezüchtet“, erklärt Kuhlmann.
Einige Böcke will er bei dem diesjährigen Heidschnuckentag, am 11. Juli in Müden, zur Auktion anbieten. In diesem Jahr findet das Fest, zu dem sich die Heidschnuckenzüchterinnen und -züchter aus der Lüneburger Heide treffen, zum 75. Mal statt. Dort will Kuhlmann auch „neues Blut“, wie er es nennt, finden, also Böcke aus anderen Herden erwerben. Der 20. April ist als Schurtermin fest vorgeschrieben, damit die Schnucken am Heidschnuckentag alle vergleichbar sind.
Wölfe greifen auch während des Hütens an
Kuhlmann nennt all seine Schnucken bei ein und demselben Namen, den er allerdings nicht verraten möchte. „Sonst laufen hier Spaziergänger durch die Heide und rufen nach meinen Heidschnucken“, sorgt er sich. Seinen Job macht der Schäfer an 365 Tagen im Jahr, lediglich für vier Vormittage in der Woche hat er seit Neuestem einen Angestellten. Die vier Hunde würden natürlich auch helfen, sagt Kuhlmann scherzhaft. Aber Moment mal! Wie kann es sein, dass alle Hütehunde auf dem Hof geblieben sind?
Der Angestellte sei heute Morgen mit dem Quad auf die Wanderung gefahren, antwortet Kuhlmann. Seit dem ersten Einsatz des Fahrzeugs, das Kuhlmann sich vor rund zweieinhalb Jahren angeschafft hat, habe es keinen Wolfsangriff mehr gegeben, erklärt der Schäfer. Die Hunde könnten die Herde zwar zusammentreiben, bei einem Angriff durch einen Wolf würden sie aber den Kürzeren ziehen. 16 Tiere habe er in 32 Jahren an den Wolf verloren – das sei relativ wenig, sagt Kuhlmann. Seine Herde sei so gut wie nie allein, deswegen brauche er auch keinen Zaun. „Aber der Wolf hat keine Angst, auch während des Hütens greift er an.“
Die Bürokratie ist eine Last für die Heidschnuckenschäfer
Als Vorsitzender des Verbandes Lüneburger Heidschnuckenzüchter kennt Kuhlmann die Probleme der Schäferinnen. Wer Prävention betreiben will, müsse sich mit arbeitsintensiver Bürokratie herumschlagen. Wer etwa einen Zaun errichten wolle, müsse dem niedersächsischen Umweltministerium zunächst drei Angebote präsentieren. In manchen Fällen sei dies gar nicht möglich – so viele Herstellende gäbe es manchmal gar nicht.
Darüber hinaus sei die Bürokratie, die abgesehen von Angriffsprävention zu leisten ist, ohnehin nur mit Mühe und Not zu bewältigen. Jede Schnucke müsse an- und abgemeldet werden, berichtet Kuhlmann, sonst drohe eine Sanktion.
Kuhlmann setzt sich für verbesserte Hilfeleistung zur Wolfsabwehr ein
Um die Hilfeleistung zur Wolfsabwehr durch das Bundesland zu verbessern, setzt sich Kuhlmann aktuell dafür ein, dass Schäfer einen festen Betrag zur Prävention pro Mutterschaf pro Jahr erhalten. Im Moment sei die Hilfeleistung zu statisch und kaum auf individuelle Bedürfnisse anwendbar. „Der eine würde eine zusätzliche Arbeitskraft einstellen, der andere einen Zaun errichten.“ Bisher zahle das Amt die Erstausstattung mit Zaun. Geht es Teil kaputt, muss die Schäferin in die eigene Tasche greifen.
In ganz Niedersachsen gibt es aktuell zirka sechs Auszubildene, die einmal Schäferin oder Schäfer sein möchten. Ob sie einmal Heidschnucken hüten werden oder aber andere Schafe, steht in den Sternen. Im Moment zählt das Land zwölf Heidschnuckenherden und insgesamt 12 000 Tiere. Mitte des 19. Jahrhunderts seien es noch bis zu 600 000 gewesen, weiß Kuhlmann.
Kuhlmanns Tiere können ab April besucht werden
Doch die Heidefläche gehe immer weiter zurück, außerdem seien die Arbeitsbedingungen keine rosigen. „Man muss das hier eigentlich mit mehr Leuten machen“, sagt Kuhlmann, „damit man auch mal krank sein oder in den Urlaub fahren kann.“ Die Zahlen können beängstigen: Was wäre die Region schon ohne Heide und Heidschnucken? Kuhlmanns Tiere können ab April und bis Oktober immer mittwochs bei ihrem Eintrieb gegen 16.30 Uhr besucht werden.