Seevetal. Hamburger Unternehmen ermöglicht einzigartige Aktion. 30 Jungen und Mädchen sind eingeladen. Zum ersten Mal fühlen sie sich zugehörig.
Fast alle Schüler der Klasse „Deutsch als Zweitsprache“ (DAZ) der Meckelfelder Oberschule in Seevetal haben kürzlich drei persönliche Premieren an einem Tag erlebt: Das erste Mal ein Theater besuchen, das erste Mal vom Weihnachtsmann beschenkt werden, das erste Mal die Alster sehen.
Nie zuvor hatten die 30 Jungen und Mädchen im Alter zwischen zehn und 17 Jahren ein Weihnachtsmärchen auf der Bühne gesehen, nie zuvor ein Päckchen aus dem Nikolaussack bekommen und mit Hamburg hatten sie bis dahin lediglich das Harburger Phoenix-Center assoziiert. Wenn überhaupt. Denn sie kommen aus zwölf Ländern, von drei Kontinenten, und leben erst seit kurzer Zeit in Seevetal. Viele von ihnen sprechen bisher kaum oder gar kein Deutsch.
Großes Hamburger Unternehmen ermöglichte die Aktion. Welches, das soll nicht bekannt werden
Dass sie nun ins Ernst Deutsch Theater fahren durften, um „Der Gestiefelte Kater“ zu sehen und anschließend nach einem Fußmarsch zum Alsterufer die weite Wasserfläche und die Silhouette der Hamburger Innenstadt zu bestaunen, verdanken Sie einem großen Hamburger Unternehmen, das die Theatertickets sponserte, aber ungenannt bleiben möchte. Alle Jahre wieder ist dessen Mitarbeiter Frank Schroedter aus Meckelfeld dafür zuständig, mit der Vergabe jeder Theaterkarte Lächeln auf ein Gesicht zu zaubern. Und alle Jahre wieder wählt er die DAZ-Klassen der Meckelfelder Oberschule aus. Denn erfahrungsgemäß sind deren Lehrkräfte ganz besonders aufgeschlossen, kooperativ und einsatzbereit.
Jutta Werner und Markus Kammermeier brennen gleichermaßen für den Lehrer-Beruf. Dabei sind beide noch nicht lange im Schuldienst. Sie arbeitete Jahrzehnte als Journalistin, er im Marketing. Beide haben sich entschieden, Deutsch als Zweitsprache zu unterrichten, weil es sie erfüllt und beglückt. „Es ist eine Freude, die Kinder von Flüchtlingen und Wanderarbeitern auf den Weg zu bringen. Zu sehen, wie etwas entsteht“, sagt Jutta Werner. Markus Kammermeier erklärt, er habe nie zuvor derart sinnvolle Arbeit geleistet. Geht es doch in der DAZ-Klasse darum, den jungen Menschen Chancen zu eröffnen und einen Beitrag zur Integration zu leisten.
Lehrer ermöglichen den Sonnabend-Ausflug in ihrer Freizeit
So sind Jutta Werner und Markus Kammermeier gern bereit, an einem Sonnabend (!) die Verantwortung für einen Ausflug mit mehreren Dutzend Minderjährigen zu übernehmen. Zur Unterstützung dabei waren Frank Schroedter und zwei Mütter von Schülern. Denn mit einem Haufen aufgekratzter Kids, die Anweisungen schon sprachlich kaum verstehen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs zu sein, ist eine erhebliche Herausforderung.
Außergewöhnliche Herausforderungen gibt es in der DAZ-Klasse täglich. Die Schüler sind unterschiedlich alt und haben gänzlich verschiedene familiäre und kulturelle Hintergründe. Zudem wechselt die Schülerschaft häufig. Plötzlich kommen neue dazu, noch gänzlich desorientiert und zuweilen traumatisiert. Andere bleiben ebenso plötzlich weg. Dann heißt es nach ihrem Verbleib zu forschen, Elterngespräche zu führen, Hausbesuche zu machen. Viele Schüler kämen aus schwierigen familiären Verhältnissen und die allermeisten hätten, wie Jutta Werner es ausdrückt, trotz ihrer jungen Jahre „schwere Päckchen zu tragen“.
Zehnjährige Valeriia aus der Ukraine: Ihr Vater kämpft in der Heimat an der Front
Da ist Valeriia, die mit zehn Jahren Jüngste der Klasse, die erst kürzlich mit Mutter, Großmutter und Bruder aus der Ukraine floh, während der Vater weiter an der Front kämpft. Da ist Olena, ebenfalls aus der Ukraine, die schon vor einem Jahr nach Deutschland kam und nun schon so gut Deutsch spricht, dass sie für Valeriia und auch für Max aus Kasachstan dolmetschen kann.
Sarah von der Elfenbeinküste gehört ebenfalls zu den „alten Hasen“, und spricht inzwischen so gut Deutsch, dass sie neben ihrer Regelklasse nur noch sporadisch die Sprachförderklasse besucht. Sie war schon im vergangenen Jahr beim Ausflug zum Ernst Deutsch Theater dabei. Sarah sei, erzählt Jutta Werner, dank ihrer Deutschkenntnisse und ihrem großen Kommunikationstalent eine wichtige Stütze im Schulalltag. Sie spreche mit allen, knüpfe Kontakte, stecke ihre Mitschüler mit ihrer Lebensfreude an. „Theater ist lustig und macht glücklich!“, antwortet die 13-Jährige mit strahlenden Augen auf die Frage nach ihrem Eindruck vom Weihnachtsmärchen.
Taha, dessen Familie vor dem Mullah-Regime aus dem Iran floh, reagiert zurückhaltender
Taha, dessen Familie vor dem Mullah-Regime aus dem Iran floh, reagiert zurückhaltender. Natürlich sei „Der gestiefelte Kater“ ein bisschen kindlich für einen 17-Jährigen wie ihn, erklärt er in passablem Deutsch. Aber trotzdem hätte es ihm gut gefallen, besonders die Figur des Zauberers, fügt er verlegen hinzu.
Esin hat die Beleuchtung im Theater fasziniert. Sie lebte in Bulgarien, der Türkei und zuletzt in Großbritannien, ist erst seit zwei Monaten in Deutschland und spricht bisher kaum Deutsch, weshalb ihr Jutta Werner der besseren Verständigung wegen noch gelegentlich ein wenig Englisch durchgehen lässt.
Mumine ist nahezu taub und spricht kaum ihre eigene Muttersprache
Linh, die über Jahre bei Verwandten in Vietnam aufwuchs und nun endlich zu Großeltern und Eltern nach Meckelfeld gezogen ist, fand die Prinzessin „cool“. Das deutet auch Mumine an, indem sie mit den Händen ein Krönchen auf ihrem Kopf bildet. Das Mädchen, deren Vater seit langem in Deutschland arbeitet, kam kürzlich mit der Mutter aus dem heimatlichen Montenegro. Sie ist nahezu taub und spricht kaum ihre eigene Muttersprache, weil ihre Behinderung viel zu spät erkannt wurde.
Trotzdem: „Von all meinen Schülern ist Mumine wohl diejenige, die am dankbarsten ist, zur Schule kommen zu dürfen. Sie ist ja intelligent“, erklärt Jutta Werner. Die Lehrerin bemüht sich derzeit, Mumine in einer Hamburger Schule für Hörgeschädigte unterzubringen, damit sie die Gebärdensprache erlernen kann.
Taha repariert in der Schule mit Begeisterung jedes defekte Gerät
Für Taha, der neben der Sprachklasse die 9. Regelklasse der Oberschule besucht, sind Jutta Werner und Markus Kammermeier auf der Suche nach einer Lehrstelle. Der junge Mann hat ein außergewöhnliches Talent und Interesse für Elektrotechnik und im Iran bereits entsprechende Vorbildung erworben. Er repariert in der Schule mit Begeisterung jedes defekte Gerät. „Wir trimmen ihn derzeit intensiv in Deutsch. Er muss im kommenden Jahr unbedingt die Sprach-Prüfung schaffen“, sagen seine Lehrer. Um die korrekte Form von Tahas Bewerbungen kümmert sich auch Frank Schroedter, der sich professionell mit der Rekrutierung von Arbeitskräften beschäftigt.
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Sein Engagement für die DAZ-Schüler beschränkt sich nicht allein auf das Verschenken von Theaterkarten. Wie den beiden Lehrern geht es ihm darum, dass die jungen Menschen einen Platz in der Gesellschaft finden.
Für Sarah, die in Stelle lebt, suchen die Lehrer einen passenden Chor
Valeriia und Max hat Jutta Werner zum Fußballverein vermittelt, damit sie ein Hobby pflegen und Kontakte knüpfen können. Für die überaus gesangsbegeisterte und stimmbegabte Sarah, die in Stelle lebt, hält sie nach einem passenden Chor Ausschau. Bisher vergeblich. „Entweder sind die Chor-Kinder zu klein für Sarah, die schon viel reifer ist, als ihr Alter vermuten lässt. Oder es sind reine Erwachsenen-Chöre“, seufzt sie. Auch Sarah soll ja über ihr Stimmtalent neue Freundschaften schließen können. Und womöglich eines Tages selbst auf einer Bühne stehen.
Der Theaterbesuch hat Sarah und alle anderen begeistert. Und er hat nicht nur zur kurzfristigen Unterhaltung beigetragen, sondern auch zur Festigung der sozialen Beziehungen innerhalb der DAZ-Klasse. Jutta Werner beobachtet voller Freude, wie sich neuerdings Mädchen umarmen und Jungen miteinander sprechen, die bisher stumm an einander vorbei sahen. Und so haben viele der Schüler an jenem Samstag im Ernst Deutsch Theater und an der Alster eine vierte beglückende Erfahrung gemacht. Vielleicht nicht gänzlich neu, aber sicherlich von den meisten lange entbehrt: Das Gefühl der Zugehörigkeit.