Amelinghausen. Hans-Friedrich Stegen aus Dehnsen baut auf 40 Hektar an, was anderen als Ärgernis gilt. Das Ergebnis: Wertvolles Regiosaatgut.

Wer im Sommer zwischen Soderstorf und Amelinghausen unterwegs ist, entdeckt mit etwas Glück rund um das Dörfchen Dehnsen eine enorme Farbenpracht. Hier ein Feld tiefroten Mohns, dort ein Acker weißer Margeriten, ein Meer himmelblauer Kornblumen, pinke Taglichtnelken, gelber Hahnenfuß. Wunderschön! Aber wozu kultiviert jemand Ackerunkräuter?

„Weil man damit Geld verdienen kann und weil es gut für die Natur ist“, sagt Hans-Friedrich Stegen, 68 Jahre alt, drahtig. Er ist Landwirt in Dehnsen wie seine Vorfahren seit dem 14. Jahrhundert. Traditionsbewusst, aber keineswegs rückwärts gewandt. Stegen hält sich stets auf dem aktuellen Stand der Agrarwissenschaft und ist für Neues aufgeschlossen.

Das Mohnblumenfeld verlockte im vergangenen Jahr Scharen von Menschen zum Fotoshooting.
Das Mohnblumenfeld verlockte im vergangenen Jahr Scharen von Menschen zum Fotoshooting. © HA | Martina berliner

Unkraut als Regiosaatgut: Der Vater suchte einen neuen Weg

Als sein Sohn Vincent erklärte, Bauer werden und den Hof in 17. (!) Generation weiterführen zu wollen, suchte der Vater einen neuen Weg für die Zukunftssicherung des Betriebs. Und stieß auf die Produktion von Regiosaatgut. Darunter versteht man Samen von Wildpflanzen, die innerhalb eines Gebietes gewonnen, dort vermehrt und in ihrer Herkunftsregion auch wieder ausgesät werden.

„Seit 2020 darf das Saat- und Pflanzgut von Kräutern, Gräsern und Gehölzen in der freien Natur nur noch innerhalb ihrer Vorkommensgebiete ausgebracht werden“, zitiert Hans-Friedrich Stegen Paragraf 40 des Bundesnaturschutzgesetzes. Bis dahin wurde Saatgut meist kostengünstig aus dem Ausland bestellt.

„Die größte Herausforderung ist es, die Kulturpflanzen sauber zu halten“, sagt Bauer Stegen.
„Die größte Herausforderung ist es, die Kulturpflanzen sauber zu halten“, sagt Bauer Stegen. © HA | Martina berliner

40 Hektar Unkraut: Landwirt entdeckt eine Marktlücke

Der neue Passus schützt die heimische Flora vor Verdrängung durch gebietsfremde Arten und Varianten und dient damit dem Erhalt der genetischen und biologischen Vielfalt der Flora und auch der Fauna. Denn viele Tierarten sind auf bestimmte Pflanzen spezialisiert und können ausschließlich deren Blüten, Blätter oder Wurzeln nutzen.

Stegen erkannte die durch die Verordnung entstandene Marktlücke, nahm sich ein Herz und betrat ihm völlig unbekanntes Terrain. Mit Erfolg. Momentan wächst auf 30 Prozent seiner Landfläche, auf 40 Hektar, seine vierte Samen-Ernte heran. Das Saatgut bringt deutlich mehr ein als Getreide. Abnehmer ist ein Saatgutspezialist mit Sitz in Bayern. Aus Stegens Saatgut und dem von bundesweit etwa 60 weiteren Landwirten stellt dieses Unternehmen Mischungen für unterschiedliche Rekultivierungsmaßnahmen her – zur Begrünung von Straßenböschungen, Ufern, Blühstreifen am Feldrain. Jeweils streng gesondert für 22 Regionen zwischen Uckermark und Alpenvorland.

Punktueller Gifteinsatz gegen Löwenzahn: Hans-Friedrich Stegen mit Tupfer.
Punktueller Gifteinsatz gegen Löwenzahn: Hans-Friedrich Stegen mit Tupfer. © HA | Martina berliner

„Die größte Herausforderung ist es, die Kulturpflanzen sauber zu halten

Bauer Stegen sät für das nordwestdeutsche Tiefland mehr als 30 Arten jährlich aus, die Hälfte davon sind Gräser. „Die größte Herausforderung ist es, die Kulturpflanzen sauber zu halten“, sagt er. Das bedeutet, auf dem Feld mit Schafgarbe keinen Löwenzahn aufkommen zu lassen. Und unerwünschte Schafgarben-Varianten auch nicht. Zwischen Margeriten sollte kein Herbstlöwenzahn wachsen, auch wenn dessen Samen in diesem Jahr willkommen sind. Eben nur nicht vermischt mit denen der Margeriten. Auf Sortenreinheit kommt es an.

Deshalb ist Stegen gezwungen, selektiv wirkende Herbizide einzusetzen. „Ich setze Herbizide ein wie der Arzt seine Pillen. Jedes Pestizid hat einen begrenzten Wirkungsbereich.“ Nicht jedes wirkt gegen alle unliebsamen Gewächse. So wandert Familie Stegen zuweilen über ihre Äcker, ausgerüstet mit Spaten und Müllsack oder mit Tupfer. Das ist eine lange Röhre mit Schwamm am unteren Ende. Damit wird Gift direkt auf die Blätter der zu eliminierenden Pflanze getupft.

Laubbläser und Staubsauger: Bauer nutzt ungewöhnliches Werkzeug

Auch sonst arbeitet Stegen nunmehr mit ungewöhnlichen Werkzeugen. Laubbläser und Staubsauger sind unverzichtbar, um den Mähdrescher nach der Ernte zu säubern und möglichst auch die letzten staubkornkleinen Samen der Sternmieren zu entfernen, bevor die Maschine auf dem Johanniskrautfeld eingesetzt wird.

Für eine reichhaltige Ernte ist neben der Reinhaltung der Kultur die richtige Düngung wichtig. Und ausreichende Bewässerung. Zudem gilt es, den richtigen Zeitpunkt zur Mahd zu finden. Nicht zu früh, damit möglichst viele Samen reif sind. Nicht zu spät, damit noch nicht zu viele Körner ausgefallen sind. Die Saatgutproduktion bedeutet enormen Aufwand und birgt Risiken. Aber sie lohnt dennoch, nicht nur monetär. Die Stegens erleben, dass ihr Anbau von Blühpflanzen auch der Natur gut tut. „Es summt und duftet auf den Äckern. Manchmal geht mir das Herz auf“, sagt Beatrix Stegen. Die Bäuerin beobachtet, dass mit der Anzahl der Insekten auch die der Rebhühner steigt, weil das größere Nahrungsangebot mehr Jungvögel überleben lässt. Bodenlebewesen profitieren ebenfalls, weil das Erdreich nicht aufgelockert werden muss und über lange Zeit ganzjährig durchwurzelt bleibt.

Neue EU-Richtlinie könnte die Hälfte aller zugelassenen Herbizide verbieten

Fein und wertvoll: Samen von Herbstlöwenzahn (links) und Sumpfschafgarbe in Händen des Ehepaars Stegen.
Fein und wertvoll: Samen von Herbstlöwenzahn (links) und Sumpfschafgarbe in Händen des Ehepaars Stegen. © HA | Martina berliner

Ist also Saatgut-Produktion für Familie Stegen die ideale Lösung aller Zukunftssorgen? Schulterzucken. Hans-Friedrich Stegen befürchtet, dass eine neue EU-Richtlinie bald die Hälfte aller jetzt zugelassenen Herbizide verbieten könnte. „Dann wäre dem Unkraut nicht mehr beizukommen und das Produktionsverfahren nicht mehr möglich.“ Dann wäre auch rund um Dehnsen wieder Schluss mit Farbenpracht, Duft und Insektenfülle auf manchen Äckern.