Landkreis Harburg. Im Kreis Harburg nimmt die Zahl der falschen Notfall-Alarme rasant zu. Sie kommen über die nora-App und treffen eine bestimmte Gruppe.
- Seit Mai rücken immer mehr Einsatzkräfte im Landkreis Harburg wegen gefälschter Notrufe aus
- Die Fake-Alarme kommen über die Notruf-App nora – ein deutschlandweites Phänomen
- Örtliche Polizei identifiziert zwei jugendliche Verdächtige – Täter haben konkrete Zielgruppe für „Streiche“
“Die Gasleitung in einem Haus ist explodiert. Eine Person hat es nicht mehr nach draußen geschafft und muss gerettet werden.” Nahezu wortgleiche Notrufmeldungen gehen seit Anfang Mai zum Teil mehrmals pro Woche bei der Rettungs- und Feuerwehrleitstelle des Landkreises Harburg ein.
Die Einsatzorte liegen dabei quer über den Landkreis verteilt. Jedes Mal werden Dutzende Feuerwehrleute, Polizisten, Notärzte und Sanitäter losgeschickt. Doch bei jedem Einsatz stellen die Retter schnell fest: Die angeblich betroffenen Anwohner wissen von nichts. Es gibt kein Gasleck.
Fake-Notrufe: Täter provozieren Einsätze vor laufender Kamera
Die Notrufe werden bewusst gefälscht. Im Visier der Täter stehen vor allem Streamer, die gerade live im Internet auf Sendung sind, erfuhr das Abendblatt aus Ermittlerkreisen. Das Phänomen kommt aus den USA. Sein Name: Swatting – abgeleitet vom Namen der Polizei-Sondereinheit SWAT.
Beim Swatting werden den Leitstellen falsche Informationen zu einer Not- oder Gefahrenlage übermittelt. “Das erfordert oft ein sofortiges Einschreiten der Polizei”, sagte ein Sprecher der Polizeidirektion Lüneburg. Das Ziel der Täter sei es, “dass die Polizei die Häuser von Streamern betritt und der Einsatz live im Internet zu verfolgen ist.”
Neue Notruf-App nora dient als Einfallstor für falsche Einsätze
Um Notrufe zu fälschen, nutzen die Täter die relativ neue Handy-App nora. Entwickelt unter der organisatorischen Leitung vom Innenministerium in Nordrhein-Westfalen wird sie als “offizielle Notruf-App der Bundesländer” beworben und soll vor allem Menschen mit Gehör- oder Sprachschwierigkeiten einen Notruf erleichtern.
Das Problem: Mit vergleichsweise einfachen technischen Maßnahmen kann die eigene Identität verschleiert und ein falscher Notfallort angegeben werden. Die Bedienung der App ist unkompliziert gestaltet. Mit wenigen Klicks kann jeder in vorgefertigten Textbausteinen den jeweiligen Notfall beschreiben. Rückfragen der Disponenten sollten, müssen aber nicht beantwortet werden.
Keine Seltenheit: Zehn Prozent aller nora-Rettungseinsätze sind gefälscht
Deutschlandweit sind seit dem Start der App vor eineinhalb Jahren über 1.700 falsche Notrufmeldungen eingegangen, teilte das niedersächsische Innenministerium auf Anfrage des Abendblatts mit. Das ist bei etwas mehr als 17.000 Notrufen jeder zehnte Fall.
Meldungen über die nora-App seit Oktober 2021 bis April 2023 (gerundet):
Auch bei den gemeldeten Gasaustritten im Landkreis Harburg in den vergangenen Wochen wurden Rettungskräfte zu einem Einsatzort geschickt, an dem eigentlich nichts passiert war. Auf Namen und Orte soll zum Schutz der Betroffenen an dieser Stelle verzichtet werden.
Das Geschehen beim eingangs geschilderten Gas-Alarm lief so ab: Es ist später Nachmittag, als die nora-Meldung über bei der Leitstelle eingeht. Bei einem Gasaustritt ist im Feuerwehrsystem für jeden Ort genau hinterlegt, welche Feuerwehren mit welchem Spezialgerät alarmiert werden.
So landet der Alarm bei gut 50 Feuerwehrleuten oder mehr. Im Landkreis Harburg arbeiten außerhalb einer Werkfeuerwehr keine festangestellten Feuerwehrleute. Alle Retter sind ehrenamtlich in den Wehren und werden durch solch einen Alarm aus dem Privatleben oder der Arbeit gerissen.
Betroffener sagt: “Ich dachte an einen Scherz, weil wir gar keinen Gasanschluss haben.”
So auch an diesem Nachmittag. “Mein Nachbar ist bei der Feuerwehr und klingelte bei uns”, erzählt ein Notruf-Missbrauch-Betroffener. Er habe gefragt, ob bei uns Gas austrete und ob jemand verletzt sei. “Ich dachte an einen Scherz, weil wir gar keinen Gasanschluss haben.” Mein Nachbar merkte schnell, dass es sich um eine Fake-Meldung handelte und konnte das dann der Leitstelle melden, sagt der Betroffene. Die anderen Feuerwehrfahrzeuge blieben damit in den Wachen.
So schnell lässt sich ein mutwilliger Fehlalarm nicht immer aufklären. In einigen Fällen waren bereits etwa 50 Feuerwehrleute, ein Rettungshelikopter, eine Rettungswagenbesatzung und mehrere Polizeistreifen auf dem Weg zum vermeintlichen Gasaustritt. “Bei jedem Einsatz sind die Fahrzeuge und das Personal erst einmal gebunden”, sagt Harburgs Kreisbrandmeister Volker Bellmann. Für die Retter seien “diese missbräuchlichen Notrufe extrem ärgerlich.”
Meldungen an Feuerwehr und Rettungsdienstleitstellen und Polizei über die nora-App seit Oktober 2021:
Landkreis Harburg: Sieben mutwillige Falschalarme allein seit Mai
Eine Anzeige habe er nach dem Fake-Anruf nicht gestellt, sagt der Betroffene. Keiner hätte ihm erzählt, dass so etwas öfter vorkomme und es sich nicht nur gegen ihn richte. Tatsächlich rückt das Problem bei den für die Feuerwehr- und Rettungsdienstleitstellen zuständigen Landkreisen im Norden Niedersachsens erst langsam mit den steigenden Fehleinsätzen in den Fokus.
Wie das Abendblatt bei Hintergrundgesprächen erfuhr, sei die Taktik in vielen Verwaltungen bisher vor allem gewesen: “Nicht groß darüber sprechen, um den Tätern keine Öffentlichkeit zu geben.”
Doch gerade im Landkreis Harburg hörten die Fehlalarme, von denen es die erste Häufung im Dezember 2022 gab, nicht auf. Sie nehmen seit einem Monat sogar rasant zu. Nach Recherchen des Abendblatts gab es im Landkreis seit Anfang Mai mindestens sieben mutwillige Falschalarme, bei denen ein Gasleck gemeldet wurde. Auch nicht vorhandene Feuer und ein angeblich im Sterben liegender Säugling wurden in den letzten Monaten schon über die App gemeldet.
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Fehlende Daten: Behörden haben keine Übersicht über die Fälle
Eine fundierte Datengrundlage zu den mutwilligen Fehlalarmen ist bei den vielen Behörden nicht vorhanden. “Die App hat bislang noch keine Schnittstelle zum Einsatzleitsystem”, heißt es aus einer Verwaltung. Die App-Notrufe würden nur zwischen 24 und 168 Stunden auf Servern gespeichert. Danach seien die Daten, wenn überhaupt, nur noch auf einer Festplatte vorhanden. Eine Auswertung ist damit nur zeitaufwendig händisch möglich.
Jeder mutwillige Fehlalarm wird von den Mitarbeitenden des Landkreises zwar bei der Polizei zur Anzeige gebracht. Trotzdem liegen dem niedersächsischen Innenministerium – dem alle Polizeiinspektionen unterstellt sind – keine Daten vor, wie viele nora-Meldungen im Bundesland missbräuchlich abgesetzt worden sind.
Auch bei der im Norden Niedersachsens zuständigen Polizeidirektion Lüneburg ist eine exakte Auswertung der missbräuchlichen Notrufe aus technischen Gründen nicht möglich. “Wir können jedoch angeben, dass über 20 Strafverfahren seit der Einführung der Notruf-App ‘nora’ im Zusammenhang mit missbräuchlichen Notrufen im Bereich der Polizeidirektion Lüneburg eingeleitet wurden”, teilte ein Sprecher mit.
Streamer stehen im Fokus der Täter: Auch MontanaBlack war Ziel von Fake-Notruf
Die Problematik des Notrufmissbrauchs mit der Nora-App ist ein deutschlandweites Phänomen. In Hamburg traf es Anfang Januar den bekannten Streamer MontanaBlack. Auch auf seinem Anwesen wurde ein Gasleck gemeldet. Ein anderer Fall: Im Dezember riegelte die Polizei die Reeperbahn ab, nachdem Schüsse über die App gemeldet wurden. Ebenfalls im Dezember seien fast 250 Livestreamer deutschlandweit Opfer von Fake-Notrufmeldungen geworden, berichtete die WELT.
Im Norden Niedersachsens sind vor allem die Feuerwehr- und Rettungsleitstellen von den gefälschten nora-Notrufen betroffen. Die Polizei nach eigenen Angaben dagegen kaum.
An welcher Adresse die falschen Notrufe gemeldet werden, wirkt auf den ersten Blick willkürlich. Mal wird in den Notrufmeldungen ein Mehrfamilienhaus in einer Kleinstadt angegeben, mal ein Einfamilienhaus abseits von Ortschaften. Doch viele Adressen haben eine Gemeinsamkeit: Oft wohnen dort Livestreamer. Menschen also, die in vielen Fällen zu Hause ein Computerspiel spielen, kommentieren – und eine Liveübertragung davon über das Internet per Stream senden.
In Spitzenzeiten haben einzelne deutschsprachige Streamer mehrere Zehntausend Zuseher und damit mehr als mancher Spartenkanal im Fernsehen. Neben Top-Verdiener mit großen Werbe- und Sponsoreneinnahmen gibt es in der Szene auch Abertausende kleinere Streamer.
Adressen der Opfer stammen aus dem Internet
An die Adressen dieser kleinen Streamer können die Täter zum Beispiel durch die Impressumsangaben auf der eigenen Webseite oder einer Seite in den sozialen Medien kommen. Eine vollständige Adresse anzugeben ist dabei in Deutschland für viele Seiten Pflicht.
Top-Streamer haben in der Regel eine Agentur oder Produktionsfirma im Hintergrund. Sie müssen also keine privaten Angaben machen. Von allen anderen steht schnell die private Wohnadresse im Internet.
Vereinzelt treffen die Fake-Anrufe auch Politiker, die durch gleiche Vorgaben mit ihrer Adresse im Internet auftauchen.
So werden Falschalarme über die nora-App ausgelöst
Die nora-App ermöglicht im Vergleich zu einem mutwilligen Fehlanruf per Telefon einen für Täter fast einfachen Weg. Während Anrufe in Zeiten ohne öffentliche Telefonzellen durch die einzigartige Rufnummer vergleichsweise gut zu der jeweiligen Person zurückverfolgt werden können, scheitert das bislang bei der App-Nutzung. Außerdem scheint die persönliche Hürde per Telefon einen falschen Notfall zu schildern, deutlich höher als bei einer einfachen App-Nutzung.
Um die nora-App nach dem Download aus dem jeweiligen App-Store nutzen zu können, muss eine Handynummer eingegeben werden. Wie bei vielen anderen Online-Diensten kommt dann per SMS ein Zahlencode, um die App freizuschalten. Doch diese Verifizierung mit der eigenen Rufnummer kann umgangen werden.
Das Problem hat auch das für die App zuständige NRW-Innenministerium erkannt. “Die Nutzung von ‘unechten’ Rufnummern wird weiter eingeschränkt, um das Umgehen der SMS-Registrierung zu erschweren. Auffällige Apps und Rufnummern sperren wir sofort”, sagte eine Sprecherin.
Stärkere Kontrolle steht dem Grundgedanken der App entgegen
Eine Möglichkeit, die Verifizierung sicherer zu gestalten, wäre es, auf ein Video-Ident-Verfahren mit einem Personalausweis umzusteigen. Das System verlangen heutzutage zum Beispiel schon Banken bei einer Registrierung. Diese Anmeldung per Video-Chat steht aber dem Grundgedanken hinter der App-Entwicklung entgegen.
Die Notruf-App solle insbesondere ein Instrument für Menschen mit Behinderung sein, sodass ein niedrigschwelliger und dem Sprachnotruf gleichwertiger Zugang geboten werden müsse, erklärt ein Sprecher der Polizeidirektion Lüneburg. “Aus diesem Grund können nicht alle technischen und organisatorischen Maßnahmen ergriffen werden, die einen Notrufmissbrauch verhindern.”
Ein weiteres technisches Problem lässt sich dagegen für die Entwickler kaum lösen. Meldet ein Nutzer per Texteingabe den Notfall, wird sein Standort per GPS des Handys erfasst. Durch technische Mittel kann der GPS-Standort jedoch verfälscht werden. So entstehen Notfallmeldungen an Orten, von denen der Absender theoretisch Hunderte Kilometer entfernt sein kann.
Fälle in der Region: Polizei macht 17- und 19-Jährigen ausfindig
Trotz der technischen Herausforderungen gelang es der Polizeidirektion Lüneburg, zwei Verdächtige ausfindig zu machen, die für falsche App-Notrufe im Norden Niedersachsens verantwortlich sein sollen. Bei zwei Fake-Notrufen laufen die Ermittlungen gegen einen 17-Jährigen aus Nordrhein-Westfalen. Bei einem dritten Notrufmissbrauch steht ein 19-Jähriger in Verdacht. Er landete im Fokus der Beamten, weil er den gefälschten Notfall an seinem eigenen Wohnsitz angegeben hatte.
Ob er seine Adresse bewusst oder aus Versehen verwendete, ist nicht bekannt. Weitere Angaben zu den Hintergründen wollte die Polizei nicht machen, um die laufenden Ermittlungen nicht zu gefährden. Für den Missbrauch des Notrufs können die Täter mit Geldstrafen oder einer Freiheitsstrafe von höchstens einem Jahr bestraft werden. Zusätzlich könnten die Kommunen versuchen, die Kosten für die Feuerwehreinsätze einzutreiben. Das kann schnell in die Zehntausende Euros gehen.
US-Phänomen „Swatting“ funktioniert in Deutschland nicht
Um dem Missbrauch Herr zu werden, plane das nordrhein-westfälische Innenministerium “das Monitoring” zu verstärken, teilte eine Sprecherin mit. Außerdem würde die Behörde Daten zum Missbrauch auswerten und den Leitstellen zukünftig zur Verfügung stellen.
Wie notwendig eine Sensibilisierung der einzelnen Leitstellen ist, zeigt sich besonders bei den Kreisen, wo es bisher kaum Falschmeldungen gibt. Auf Abendblatt-Anfrage teilten einzelne Landkreise mit, dass bisher keine Maßnahmen getroffen werden, um einen Missbrauch zu verhindern. Begründung: “Wir sehen keinen Bedarf”.
Das Ziel der Täter, die Streamer im Livestream durch Polizei und Feuerwehrleute überraschen zu lassen, klappt übrigens fast nie. Im Gegensatz zu den USA gehen die Beamten hier deutlich weniger rabiat vor. So gibt es bei den betroffenen Streams nichts zu erkennen, was auf den Einsatz hindeutet.