Winsen. Druck, Überwachung und Versuche zur Einschüchterung? Blick ins Amazon-Logistikzentrum in Winsen zeigt Probleme auf.
Amazon sorgt für schnelle und pünktliche Paketzustellung – auch zu Stoßzeiten in der Weihnachtszeit oder rund um den „Black Friday“. Dank stark digitalisierter Standorte wie dem Logistikzentrum in Winsen im Landkreis Harburg erreichen Bestellungen die Kunden oft noch am selben Tag. Das Problem: Im hocheffizienten Liefernetz ist der Mitarbeiter Teil der Kette, die stets funktionieren muss.
Eine großangelegte Recherche von Correctiv.Lokal in Kooperation mit mehreren Regionalmedien legt nahe, dass das Unternehmen für seinen Erfolg auch auf ein System setzt, das von Ausbeutung insbesondere bei der Auslieferung und schlechten Arbeitsbedingungen in den Werken geprägt ist.
Amazon-Logistikzentrum: Mitarbeiter kritisieren Überwachung und Druck
Wie eine Kooperation zwischen dem Recherchenetzwerk Correctiv.Lokal und dem Abendblatt zeigt, sehen sich auch Beschäftigte im großen Logistikzentrum Winsen psychischem Druck und permanenter Kontrolle ausgesetzt. Missstände, die neben anderen Punkten seit Jahren von der Gewerkschaft Verdi angeprangert und durch Recherchen diverser Medien untermauert werden.
Amazon gilt als einer der größten Arbeitgeber der Welt und wies 2021 einen Gewinn in Höhe von rund 33,36 Milliarden US-Dollar aus. Besonders hierzulande blickt der Konzern auf eine rasante Entwicklung zurück. Deutschland ist mittlerweile der zweitgrößte Markt für den US-Riesen.
„Arbeitsklima der Angst und des Misstrauens“ in Winsen?
Während sich eine anonym befragte Winsener Logistik-Mitarbeiterin „wie in einem Gefängnis fühlt“ und ein „Arbeitsklima der Angst und des Misstrauens“ kritisiert, stört einen sonst zufriedenen Angestellten insbesondere die „permanente Überwachung“. Gemeint ist die individuelle Paketrate jedes Mitarbeiters, die Vorgesetzte ständig einsehen können.
Eine Praxis, deren Rechtmäßigkeit voraussichtlich ab dem 9. Februar vor dem Verwaltungsgericht Hannover verhandelt wird. Denn die zugrundeliegende „ununterbrochene Erhebung und Verwendung von Beschäftigtendaten“ hatte Niedersachsens Landesdatenschutzbeauftragte 2020 untersagt. Amazon hat Widerspruch gegen die Entscheidung eingelegt und verweist auf ein branchenübliches Warenwirtschaftssystem. „Unserer Einschätzung nach entspricht das bestehende System dem deutschen Recht und den EU-Vorschriften“, heißt es.
Was Amazon zeigt: Abendblatt-Besuch im Logistikzentrum
Die Äußerungen der Mitarbeiter weist Amazon von sich – insbesondere zur „digitalen Überwachung“. Auf Abendblatt-Nachfrage reagierte der Konzern mit einer Einladung zum Werksbesuch in Winsen. Der Standort ist einer von 20 großen Logistikzentren in Deutschland. 100.000 Pakete verlassen pro Tag das Zentrum mit seinen rund 1900 Mitarbeitern. Hier wird erklärt, wie die Lieferkette von Amazon funktioniert.
Ergebnis der Abendblatt-Begehung: An ihrem Arbeitsplatz befragt, fühlen sich zufällig ausgewählte Mitarbeiter nicht unter Druck gesetzt. Von solchen Fällen habe man allenfalls gehört. Eine Mitarbeiterin sagt: „Stress? Gegen meinen vorigen Job als Filialleiterin im Einzelhandel ist das hier gar nichts.“ Sonst: Immer wieder Achselzucken und der Satz „Ich kann mich nicht beschweren.“
Die geführte Tour durch die Hallen und die Befragung der Mitarbeiter ohne Amazon-Begleitung hinterlassen den Eindruck einer durchschnittlichen Arbeitsumgebung: ein paar lachende, ein paar neutrale und einige gequälte Gesichter. Wenige schlendernde und viele zackig arbeitende Menschen an den Packstationen. Der Besuchstag – ein Freitag – gehört nicht zu den hoch frequentierten Tagen. Nicht alle Arbeitsplätze sind besetzt. Es herrscht ein lockerer Umgangston, auch wenn Standortleiter Jörn Asmussen Beschäftigten auf die Schulter tippt.
Sprechen die Mitarbeiter im Winsener Logistikzentrum offen?
Inwieweit Amazon-Beschäftigte in den Werkshallen offen sprechen und der Konzern vor dem Hintergrund der internationalen kritischen Berichterstattung für derlei Besuche Vorkehrungen trifft, bleibt unklar. Fakt ist: Die Uhr tickt hier immer. Die Deadlines sind hart, damit die Amazon-Kunden ihre Bestellungen bis zum versprochenen Termin erhalten. Ohne Ausnahme müssen die Artikel dafür zu festen Zeitpunkten in die Lkw gelangen. Im Leipziger Amazon-Zentrum ließ die dortige Leitung im Sommer 2022 den Betrieb weiterlaufen, obwohl ein Mitarbeiter während seiner Schicht starb.
Während sich einige Mitarbeiter mit dem Takt des „Systems“ nach eigenen Angaben wohlfühlen, löst er bei anderen in Verbindung mit der Kontrolle durch den Vorarbeiter offenbar großen Stress aus. Die Software steuert alle technischen Anlagen: selbstfahrende Regalroboter, Paketbänder und per Arbeitsanweisungen letztlich auch den Mitarbeiter.
Ein langjähriger Beschäftigter zeigt sich vor Ort stolz über seine Geschwindigkeit. Seine Rate sei durch das Gespräch mit der Presse zwar gesunken. Doch er sei gut genug, um das aufzuholen. Wenn sein Kollege an der Station zu langsam arbeite oder ständig auf die Toilette gehe, müsse er aber für beide arbeiten.
Was Mitarbeiter anonym über die Arbeit im Logistikzentrum berichten
Im Schutze der Anonymität berichten Mitarbeiter von ständigem Druck, in ihrer gemessenen Arbeitsleistung gute Ergebnisse zu erzielen. Amazon sei gut darin, nach außen den Schein zu wahren, sagt Mitarbeiterin E., die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Besonders die Behauptung, dass jeder in seinem Tempo arbeiten könne, stimme nicht. „Sobald jemand die Vorgaben nicht erfüllt, kommt ein Vorgesetzter mit seinem Computer und zeigt ihm die Performancerate.“
Amazon entgegnet schriftlich: „Wir verlangen von unseren Mitarbeiter:innen nicht, dass sie individuell bestimmte Arbeitsgeschwindigkeiten oder Produktionsziele erreichen. Wir bewerten die Leistung auf der Grundlage gut erreichbarer Erwartungen“
Mitarbeiter M. berichtet gegenüber dem Abendblatt von psychischer Belastung
Doch auch Mitarbeiter M. berichtet gegenüber dem Abendblatt von psychischer Belastung. Auch er will aus Sorge vor Konsequenzen unerkannt bleiben. „Es ist nicht so, dass alles schlecht ist. Und eine gewisse Leistung muss sein“, sagt er. „Aber dieser ständige Druck muss weg.“ M. ist seit 2017 in Winsen beschäftigt. Während die Paketrate anfangs einmal die Woche in Feedbackgesprächen besprochen wurde, passiere das mittlerweile bis zu zweimal pro Schicht am Tag. Seiner Erfahrung nach hänge die Situation stark vom Vorgesetzten ab. „Es gibt auch Manager, die die Zahlen gelassen sehen.“
Standortleiter Jörn Asmussen widerspricht der Darstellung: Die Teamleiter hätten gar nicht die Zeit, die bis zu 90 Mitarbeiter derart mit Zahlen zu konfrontieren. Viele Beschäftigte würden das Feedback vielmehr einfordern, heißt es aus der Pressestelle. „Bei Amazon haben die Sicherheit und das Wohlbefinden unserer Kolleg:innen oberste Priorität.“
Schilderungen über Druck und Kontrolle gegenüber dem Abendblatt
Die Schilderungen über Druck und Kontrolle gegenüber dem Abendblatt decken sich allerdings unter anderem mit den Eindrücken einer verdeckten Panorama-Reportage (NDR) im Winsener Werk aus dem Jahr 2017. Besonders gegenüber Beschäftigten mit befristeten Verträgen werde dieser Druck ausgeübt, berichten die Beschäftigten heute. Nur mit guten Zahlen würden Anschlussverträge winken. Auf diesen Vorwurf reagierte Amazon auf Abendblatt-Nachfrage nicht. Nach Unternehmensangaben haben mehr als dreiviertel aller Beschäftigten einen unbefristeten Vertrag. Verdi gibt zwei Drittel an – also jeder dritte Beschäftigte in Befristung.
Besonders diese Arbeiter mit befristeten Verträgen schleppten sich auch krank zur Arbeit, erzählen die befragten Mitarbeiter. Aus Angst, nicht weiterbeschäftigt zu werden. Für andere Standorte hatten RTL-Reporter des „Team Wallraff“ darüber im Jahr 2021 berichtet. Darüber hinaus fühlte sich Mitarbeiterin E. in Winsen mit Gelenkproblemen und einem Rückenleiden nicht ernstgenommen. Krankheit sei in einem auf Roboter ausgerichteten System nicht vorgesehen.
Antwort von Amazon: „Diesen Vorwurf können wir nicht nachvollziehen, denn unsere Kommunikation an die Mitarbeiter:innen ist ganz klar: Wer sich krank fühlt, bleibt zu Hause und sucht bei Bedarf seine:n Ärzt:in auf.“ Man nehme jeden Mitarbeiter ernst und sei bestrebt, jeden an der geeigneten Position einzusetzen. Zudem sei eine regelmäßige Job-Rotation eingeführt worden.
Verdi-Streik: Einschüchterungsversuchen von Amazon-Managern?
Weit auseinander gehen die Darstellungen hinsichtlich möglicher Einschüchterungsversuche bei einem Verdi-Streik in Winsen im November. Die Gewerkschaft hatte rund um den Rabatt-Tag „Black Friday“ zu Arbeitsniederlegungen aufgerufen. Ziele: Der Abschluss von Tarifverträgen und eine höhere Lohnanpassung. Amazon hatte die Gehälter um drei Prozent erhöht.
Statt mit Zugeständnissen habe Amazon mit Präsenz der Chefs direkt vor dem Betrieb und an den Ein- und Ausgängen reagiert, berichtet Havva Öztürk von Verdi. Die Gewerkschaft wertet das Auftreten als Einschüchterungsversuch, weil Manager bisher „nie den ganzen Tag in der Kälte verbracht“ hätten, um den Beschäftigten einen schönen Arbeitstag zu wünschen.
Am Ende stehen zwei Erzählungen desselben Streiktages. Denn Jörn Asmussen weist auch diese Vorwürfe von sich und sagt: „Es gab keine Einschüchterungsversuche. Wir stehen regelmäßig draußen, begrüßen die Mitarbeiter. So war es auch an diesem Tag.“ Amazon-Pressesprecher Oliver Kentschke erläutert schriftlich: „Wir hören zu, wir respektieren und wir kümmern uns.“ Dazu gehöre auch der direkte Dialog mit Führungskräften.
Diese Recherche ist Teil einer Kooperation des Hamburger Abendblatts mit CORRECTIV.Lokal – ein Netzwerk für Lokaljournalismus, das datengetriebene und investigative Recherchen gemeinsam mit lokalen Partnern umsetzt. CORRECTIV.Lokal ist ein Teil des gemeinnützigen Recherchezentrums CORRECTIV, das sich durch Spenden von Bürgern und Stiftungen finanziert.