Harburg. Helge Adolphsen ist emeritierter Hauptpastor des Michel. Er lebt in Hausbruch. Seine Kolumne erscheint im Zwei-Wochen-Rhythmus
Ich sehe öfter das Auto der „Harburger Tafel“ an unserem Supermarkt. Der Mitarbeiter der Tafel lädt Kisten mit Obst, Gemüse, Produkten mit Verfallsdatum und Backwaren vom Vortag in das Auto. Ich kenne diesen besonderen sozialen Verein mit seinen 60.000 ehrenamtlichen Mitarbeitenden in Deutschland seit langem.
Die Harburger Tafel mit ihren drei Nebenstellen hat wie alle Tafeln jetzt Probleme. Die Inflation ist gestiegen. Alles wird teurer. Der Grund: Rohstoffe sind durch den Krieg in der Ukraine und die gestörten Lieferketten knapp. Aber auch durch die Angst vieler, die deshalb Hamsterkäufe tätigen. Dass es kaum Mehl zu kaufen gibt, was meine Frau zum Brotbacken braucht, erinnert mich an die Nachkriegszeit.
Lange Schlangen vor der Ausgabe in Hamburg-Jenfeld
Die Tafel beliefert auch andere soziale Einrichtungen. Die Mitarbeitenden, die ehrenamtlich jeweils sechs Stunden arbeiten, sind überlastet. Im April standen beispielsweise in Hamburg-Jenfeld schon um 8 Uhr mehr als 400 Geflüchtete aus der Ukraine vor der Tür. Geöffnet wurde erst um 10 Uhr. Nach anderthalb Stunden waren die Regale leer. Dazu kommen diejenigen, die in Einkommensarmut oder am Rande des Existenzminimums leben. Zu ihnen gehören auch Spätaussiedler und Selbstständige, die insolvent geworden sind.
Die Tafel in Harburg braucht im Jahr 750.000 Euro. Sie finanziert sich wie alle 940 Tafeln in Deutschland durch Spenden. Die Mitarbeiterin erzählt, dass die Belastung der Ehrenamtlichen stark zugenommen hat. Und sie vermissen sehr, dass ihnen von der Politik auch einmal gedankt wird für ihr großes Engagement.
- Mein Loblied auf die Plauderkasse im Supermarkt
- Impfen ja oder nein? Was hält unsere Gesellschaft zusammen?
Der Jesuitenpater Jörg Alt sammelt selbst Lebensmittel für eine Tafel in Nürnberg. Aber er will noch etwas Anderes. Und er will mehr erreichen. Er kämpft für eine politische Lösung des Problems der Lebensmittelverschwendung und will ein Lebensmittel-Rettungsgesetz und eine Agrarwende initiieren. Denn das Mindesthaltbarkeitsdatum, das auf den Packungen angegeben ist, bedeutet ja nicht, dass der Inhalt nicht mehr essbar oder verwendbar ist. Und ein Obst- oder Gemüseteil, das eine kleine Stelle hat, ist noch lange nicht unbrauchbar. Man muss sie nur rausschneiden.
Um Aufmerksamkeit zu erregen, hat Alt sich selbst wegen Diebstahls von Lebensmitteln aus Containern angezeigt. Eine clevere Idee! Die Staatsanwaltschaft musste ermitteln. Nun hat sie das Verfahren eingestellt. Begründung: Was er tut, sei nicht als schwerer Diebstahl zu bewerten.
Etwas aus Mülltonnen zu entwenden, ist schwerer Diebstahl
Der Pater wundert sich: Sein Geständnis soll nicht zählen? Schließlich hat er doch die Lebensmittel, die er an Bedürftige verteilt, aus Containern gestohlen. Etwas aus Mülltonnen zu entwenden, ist nach geltendem Recht schwerer Diebstahl. Er vermutet, dass er als Priester bevorzugt behandelt wird. Aber er lässt nicht locker.
Nun will er nach Beratung mit seinem Anwalt weitere Einzelheiten seines „Diebstahls“ nachreichen. Ein Überzeugungstäter! Er will, dass in unserem Land nicht akzeptiert wird, dass bedürftige Menschen sich für ihren Lebensunterhalt aus Mülltonnen versorgen müssen.
Jesuiten sind keine Wirrköpfe. Und Jörg Alt ist weit mehr als ein Rebell. Er versteht sich offenbar als Aktivist, der mit Rechtsbrüchen und gewaltlosen Mitteln etwas Gutes erreichen will. Er will, dass im Bundestag ein Gesetz beschlossen wird, das die sozialen und politischen Verhältnisse verändert.
Und das zugunsten der steigenden Zahl von Millionen Menschen in unserem Land, die ganz unten und am Ende der Gesellschaft leben. Nächstenliebe verlangt manchmal ungewöhnliche und kreative Wege.