Harburg. In seiner Kolumne fragt sich der ehemalige Hauptpastor des Hamburger Michel Helge Adolphsen, warum Egoismus eine solche Rolle spielt.
Die Infektionszahlen steigen wieder. Um Lockerungen und Einschränkungen wird gerungen. Es steht viel auf dem Spiel. Hinzu kommt, dass alle Prognosen über ein Ende der Corona-Pandemie unsicher sind. Die Politikerinnen und Politiker, aber auch jeder Einzelne muss abwägen zwischen dem Wunsch nach Freiheit und Bekämpfung der Pandemie. Eines muss allen klar sein: Der Lebensschutz darf nicht der Selbstbestimmung geopfert werden. Deshalb dürfen wir als freie Bürger nie nur auf die eigene Freiheit pochen. Absolute Freiheit gibt es nur für Alleinherrscher und Diktatoren, in unserem freiheitlichen Rechtsstaat aber nicht.
Mich beschäftigt zunehmend die große Zahl von Menschen, die sich zum Teil lautstark weigern, sich impfen zu lassen. Und das im Namen der absoluten Selbstbestimmung. Ich erinnere an die erregten Diskussionen über die Abtreibung und die Rechte der Frauen in den 70er-Jahren. Motto: „Mein Bauch gehört mir!“ Wirklich? Hier wie dort gilt doch: Selbstbestimmung ja – aber Lebensschutz muss in einer Balance mit ihr bleiben. Impfgegner können sich deshalb nicht auf das im Grundgesetz verbriefte Recht auf körperliche Unversehrtheit berufen.
Impfverweigerer denken nur an ihren eigenen Schutz
Die Totalverweigerer lehnen unter Berufung auf dieses Grundrecht jegliche Form von Impfung ab, gegen Masern, Keuchhusten, Grippe, Covid 19 samt allen gefährlichen Mutationen. Sie denken nur an ihren eigenen Schutz vor angeblichem Gift. Aber so nehmen sie nicht ernst, dass die für alle lebensbedrohliche Pandemie ihre tödliche Herrschaft auch über andere, Impfbefürworter wie Impfgegner ausüben kann. Dass jeder sich selbst der Nächste ist, stimmt nicht. Denn zum eigenen Selbstbestimmungswillen gehören auch die Verantwortung für andere und die Solidarität hinzu.
Wer behauptet, dass er bedingungslos autonom ist, irrt. Oder tut so, als sei er oder sie der/die Erfinder(in) und Macher(in) des eigenen Lebens. Und bedenkt nicht die vorgegebenen Bindungen durch Familie, Ehe, Nachbarn und Gemeinwesen. Wer leiblich und seelisch existiert, ist nicht autark, er ist immer schon bezogen auf andere. Und das bereits vor, bei und dann nach der Geburt. Vorrangig auf die Mutter, den Vater und auf alle Bezugspersonen.
Das Leben als Kind, Jugendlicher und Erwachsener bildet und formt sich in Beziehungen, Begegnungen und Gemeinschaft. Wir sind nicht dazu da, wie Robinson auf einer einsamen Insel zu leben. Je länger die kritische Zeit dieser Pandemie dauert, desto deutlicher zeigt sich, wie lebens-, ja überlebenswichtig die sozialen Kontakte sind. Und damit die leibliche und seelische Verbundenheit. Das sehen wir bei den Vielen, die sich den Kranken, Einsamen, Suizidgefährdeten und Sterbenden zuwenden und sich Risiken für sich selbst aussetzen. Bei dem Soziologen Ulrich Beck habe ich verstanden, was „solidarischer Individualismus“ bedeutet.
Der Begriff gibt beidem Recht, dem freien Einzelnen und seinen Beziehungen zu allen anderen, besonders zu den Schwachen und den jetzt Gefährdeten. In diesem Zusammenhang ist auch die Analyse des Diplomingenieurs und Theologen Frank Vogelsang aufschlussreich: Je mehr der Einzelne in der Geschichte seit dem 18. Jahrhundert in den Vordergrund gerückt ist, desto stärker wurden die gemeinschaftlichen Beziehungen geschwächt. Aber zugleich wertet er es als ein gutes Zeichen, dass sich in der jetzigen Krise die menschliche Verbundenheit, der „solidarische Individualismus“ deutlich zeigt. Wir sind eben nicht nur Individualisten, autonom, unabhängig oder gar nur egoistisch.
In allen Menschen sind Tugenden wie Barmherzigkeit vorhanden
Ein Leben, das nur dem eigenen Vorteil dient, auch auf Kosten anderer, ist ein amputiertes Leben. Vogelsang betont zu Recht, dass die vielfältigen Formen sozialer Verbundenheit nicht erst erfunden werden müssen. Sie schlummern in uns und sind nur überdeckt durch Tendenzen einer missverstandenen Freiheit. Der Satz „Ich kann tun und lassen, was ich will!“ öffnet Türen und Schleusen zu einem hemmungslosen Individualismus.
Der aber ist Gift für unser Zusammenleben. Ich gehe lieber davon aus, dass in allen Menschen Kräfte, Gefühle und Tugenden wie Barmherzigkeit und Nächstenliebe vorhanden sind. Aber die wohnen in uns Tür an Tür mit den negativen Potenzialen wie Egoismus, Desinteresse an anderen oder an einem gedeihlichen Zusammenleben. Immanuel Kant hat uns wegweisend ins Stammbuch geschrieben: „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen anfängt.“
Wer das beherzigt, tut das Seine, um die zwischenmenschliche Verbundenheit zu fördern. Denn nur die bewahrt vor weiterer Spaltung. Sie hält vielmehr unsere Gesellschaft zusammen.