Harburg. Jeden zweiten Sonnabend schreibt der ehemalige Hauptpastor des Michels für das Hamburger Abendblatt

In unserem Garten sind schon die Winterlinge und Krokusse mit ihren gelben Köpfen zu sehen. Sie strecken sich zum Licht. Wie alle Blumen, Büsche und Bäume wachsen sie von unten nach oben. Das ist das Grundprinzip der Natur. Nur einige Hänge- und Kletterpflanzen wachsen von oben nach unten.

Dieses Grundprinzip zeigt sich auch in unserer demokratischen Gesellschaft Die Bürger gestalten das gemeinsame Leben mit. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ So das Grundgesetz. Durch freie Wahlen kann jede und jeder in die Parlamente und bis in den Bundestag kommen.

Ohne dieses Engagement wäre unser Land sehr viel ärmer

Bei uns gehören Selbstverantwortung und Verantwortung für andere aufs engste zusammen. Das wird in den den vielen Formen ehrenamtlichen Wirkens gelebt. In Bürgerinitiativen, Vereinen und Stiftungen wird die eigene Verantwortung für den Zusammenhalt und die Gestaltung unseres Miteinanders wahrgenommen. Kluge Politiker sagen, dass ohne dieses Engagement unser Land sehr viel ärmer wäre. Auch hier wächst alles von unten.

Seit sechs Jahren bin ich Kurator einer großen Stiftung in Schleswig-Holstein. Jetzt haben wir einen weiteren Kurator hinzugewählt. Dr. Christian Wolfram ist Augenarzt. Er behandelt Star, Erkrankungen der Netzhaut und Augenverletzungen. Als Privatdozent forscht er zudem am Hamburger UKE. Aber das hindert ihn nicht, auch anderes zu tun. Als er sich bei uns vorstellte, erfuhren wir, dass er seit langem ehrenamtlich in der Christoffel-Blindenmission mitarbeitet. Diese weltweit tätige Entwicklungshilfe-Organisation, rechtlich ein Verein, ist 1908 von dem Pfarrer Ernst Jakob Christoffel gegründet worden. Sie will auf der Grundlage christlicher Werte die Lebenssituation nicht nur von blinden, sondern auch von gehörlosen, geistig und psychisch behinderten Menschen verbessern. Wir fördern seit Jahren diese Stiftung mit erheblichen Summen. Die „Alten“ spürten deutlich die Verbundenheit in den Interessen mit dem „Neuen“. Dann stellte er sich selbst persönlich und auch mit einem ehrenamtlichen Projekt vor, das er selbst initiiert hat. Und das mit Bildern und Worten.

Er lebt mit seiner Familie in Volksdorf, seit 2018, in einem Wohngebiet mit 172 Familien. In der Mitte eine Grünfläche von 3300 Quadratmeter mit sechzig hohen Bäumen. Die war als Naherholungsgebiet gedacht. Darauf stehen seit den fünfziger Jahren Spielgeräte. Die waren inzwischen nicht mehr sicher und auch wenig attraktiv für Kinder und Jugendliche. Außerdem gab es für die Geräte keine Versicherung mehr. Wolfram ergriff die Initiative. Das ist nicht typisch für einen beruflich ausgelasteten Vater. Er führte Gespräche mit der Eigentümerin der Fläche, einer Baugesellschaft. Die Verhandlungen waren nicht einfach. Ziel der Verhandlungen war, die Grünfläche den Bewohnern zu überlassen. Die Firma willigte schließlich ein und gab für die gute Idee noch 10.000 Euro obendrauf.

Der nächste Schritt der Initiative war die Gründung eines gemeinnützigen Vereins. Wolfram wurde erster Vorsitzender und mit ihm im Vorstand ein Steuerfachmann und ein Banker. Dann ging´s los mit der Eigenarbeit. Es gelang, aus Zuschauern aktive Mitmacher unter den Bewohnern zu finden. Ein Erfolgsrezept: Nicht warten, bis etwas geschieht, nicht nach Firmen suchen. Nicht klagen, jammern und Ansprüche stellen. Einfach machen!

Sei nicht Konsument, sondern Produzent deines Lebens

Ich sage dazu gern: Sei nicht Konsument, sondern Produzent deines Lebens! Eine Definition für Eigenverantwortung. Mit vereinten Kräften schufen die begeisterten Mitmacher eine Boule-Anlage. Die Fläche für einen Fußballplatz wurde bearbeitet und selbst angesät. Für weitere Spielgeräte, einen Spielturm und eine große Schaukel, wurde der Boden ausgehoben. Mit einem gemieteten Bagger und vielen Mithelfern mit Schubkarren. Der Baggerführer kam nicht von einer Firma. Ein Mitmacher wurde angelernt. Möglichst alles selbst machen! Nachbarn brachten Kaffee und Kuchen für die Männer, Frauen und Jugendlichen. Der Augenarzt besorgte Geld. Auch von unserer Stiftung, in der er nun mit uns zusammen tätig ist für andere.

Ein Lehrer war begeistert von dieser Initiative. Er wollte mit den Schülerinnen und Schülern der Berufsschule eine Schaukel bauen. Das war eine wunderbare Idee, sagt Wolfram. Aber bei solchen guten Ideen gibt es immer wieder Hindernisse. Bedenkenträger gibt es bekanntlich genug. Hier waren es aber keine und auch keine engstirnigen Bürokraten. Es gab für ein Nein schlicht versicherungsrechtliche und damit auch einsehbare Gründe. Schweren Herzens musste Wolfram die Idee aufgeben. Von Beginn an spendeten auch die Anwohner. Einer, der nicht genannt werden wollte, gab 5500 Euro! Heute hat der Verein 65 Mitglieder. Dank Fundraising und einem guten Wirtschaften und vor allem durch die Eigeninitiative hat der Verein ein gutes Polster. Demnächst soll es wieder ein großes Fest geben. Natürlich nur, wenn Corona endlich vorbei ist, sagt der berufsmäßig vorsichtige Initiator.