Helge Adolphsen ist emeritierter Michel-Pastor. Seine Kolumne erscheint alle zwei Wochen. Heute schreibt er über die Arbeit der Bahnhofsmission

Ich stehe vor dem Hamburger Hauptbahnhof. Das Erkennungszeichen der Bahnhofsmission fällt auf: Auf blauem Grund ein Kreis mit der Umschrift Bahnhofsmission, einem Kreuz und einem gelben Querbalken. Zur Zeit ist sie in einer provisorischen Unterkunft vor dem Bahnhofsgebäude am Steintorwall untergebracht. Das Hinweisschild weist alle An- und Abreisenden auf diesen Ort der Hilfe. Die hier Gestrandeten und auch die Menschen, die obdachlos sind. Es gibt 100 Bahnhofsmissionen in Deutschland, auch in Harburg. Sie alle sind eine Informationsstelle, ein Ruhe- und Hoffnungsort im hektischen Leben des Bahnhofs. Aber auch eine Herberge auf kurze Zeit.

Eben sah ich eine ältere Frau mit einem Blindenstock. Sie schien zu warten. Da kommt sie auch schon, die ehrenamtliche Mitarbeiterin der Bahnhofsmission. Sie hakt die blinde Frau unter. Beide fahren die Rolltreppe herunter auf einen Bahnsteig. Der Zug wartet schon. Die Mitarbeiterin hilft ihr beim Einsteigen. Sie kontrolliert noch, ob ihr Schützling einen Platz findet. Ein letztes Winken der offensichtlich dankbaren Frau – und der Zug fährt ab. Jeder weiß, dass blinde Menschen große Mühe haben im Gedränge eines Bahnhofs. Eine Mitarbeiterin erzählt mir später, dass viele Blinde Angst haben, weil andere so intensiv auf ihr Handy sehen, dass sie über ihren Stock stolpern könnten.

Der ehemalige Michel Pastor Helge Adolphsen
Der ehemalige Michel Pastor Helge Adolphsen © Michael Rauhe | Michael Rauhe

Hilfe brauchen auch ältere Menschen, die sich schlecht orientieren können. Oder Rollstuhlfahrer. Wenn sie einsteigen wollen, ist die Mitarbeiterin der Bahnhofsmission nicht mehr zuständig. Dann muss ein Mitarbeiter der Bahn mit einer Rampe kommen. 2,2 Millionen Menschen nehmen jährlich die Dienste der Bahnhofsmission in Anspruch. Jede und jeder kann dort anrufen oder sich per Mail melden und ein Treffen auf dem Bahnhof verabreden. Oder aber Informationen darüber erhalten, ob ein Zug verspätet kommt. Dafür arbeitet die Mission eng mit der Bahn zusammen.

127 Jahre Dienst am Menschen

Ich habe erfahren, dass in dieser Corona-Zeit viel weniger Betrieb ist in den Räumen der Bahnhofsmission. Sonst wirbelt es dort von Menschen. Da warten Menschen, die ihren Zug verpasst haben. Auch Obdachlose, die sich in diesen kalten Tagen aufwärmen wollen. Sie erhalten eine Tasse Tee oder Kaffee. Niemand muss dort seinen Namen sagen oder sich ausweisen. Hier wird unbürokratisch geholfen. Und das bewusst niedrigschwellig. Eine Mitarbeiterin betont, dass die Bahnhofsmission gelebte Kirche ist.

Und das ist sie seit 127 Jahren! Sie ist, was wenige wissen, oekumenisch und also keine konfessionelle Einrichtung. Hier hat die Zusammenarbeit der evangelischen und der katholischen Kirche wirklich mal funktioniert! Auch die Mitarbeitenden müssen keiner Kirche angehören. Es wird auch nicht nach dem Taufschein der Hilfesuchenden gefragt. Im Leitbild der oekumenischen Bahnhofsmission lese ich, dass sie der Botschaft des Evangeliums und der Nächstenliebe verpflichtet ist. Was konkreter heißt, dass Menschenfreundlichkeit, Nächstenliebe und Solidarität die Arbeit prägt. Und auch Partei ergreift für Menschen, die ausgegrenzt oder benachteiligt werden. Ohne Ansehen der Person wird geholfen. Das gilt auch für Flüchtlinge. Nächstenliebe ist immer auch Fremdenliebe.

Gelebte Nächstenliebe

Jetzt, in den nassen und kalten Tagen geben die helfenden Hände auch warme Kleidung aus, die gesammelt und gesäubert wurde. Manche Ehrenamtlichen suchen kurz vor Feierabend mit einem Einkaufstrolley die Bäckereien am Hauptbahnhof auf und sammeln Brötchen und Lebensmittel ein. Sie geben sie auch an andere diakonische, caritative und soziale Organisationen. Diese Zusammenarbeit, auch die mit dem Bahnhof, gehört zum Standard dieser Organisation. Für die vielen Ehrenamtlichen, die neben den wenigen Hauptamtlichen im Dienst der Nächstenliebe stehen, ist diese Aufgabe interessant und abwechslungsreich. Eine von ihnen hat das so formuliert: „Es ist erstaunlich, was die Menschen einem alles in ein paar Minuten erzählen. Das ist manchmal sehr berührend.“ Aber diese Arbeit ist nicht nur interessant- sie ist gelebte Nächstenliebe.