Kiel. Kriminalität steigt in Schleswig-Holstein drastisch an. Das hat auch mit dem besonders dreisten Betrug einer Flensburger Bande zu tun.
Messerangriffe, Raube, Betrügereien, Wohnungseinbrüche – Schleswig-Holstein meldet einen drastischen Anstieg der Kriminalität im vergangenen Jahr. Die Zahl der Straftaten ist 2022 im Vergleich zu 2021 um 25 Prozent oder rund 44.000 Fälle auf 221.183 Straftaten gestiegen. Das sagte Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) am Donnerstag, als sie in Kiel die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) vorstellte.
Die drastische Zunahme habe mehrere Gründe: 2021 galten noch deutlich strengere Corona-Regeln, jetzt aber werden wieder deutlich mehr Straftaten in der Öffentlichkeit verübt. Schleswig-Holstein ist hier kein Einzelfall: Denselben Effekt, also deutlich gesunkene Zahlen in der Hochphase der Pandemie und einen drastischen Anstieg von Straftaten 2022 meldete zum Beispiel auch Hamburg gerade erst.
Kriminalität in Schleswig-Holstein drastisch gestiegen
Daneben gibt es eine schleswig-holsteinische Besonderheit, die die Zahlen nach oben getrieben hat: Allein auf das Konto einer Bande gehen im vergangenen Jahr 33.738 Betrugsfälle. Die zwölf Tatverdächtigen aus dem Großraum Flensburg hatten mit einer kostenpflichtigen Online-Dating-Plattform Frauen und Männer abgezockt, die dort einen neuen Partner suchten. Die „einsamen Menschen“, so der Leitende Kriminaldirektor Rolfpeter Ott, die hier mitmachten, mussten Flirtcoins von einem Euro kaufen.
Dann erst konnten sie Kontakt aufnehmen. Die Bande gaukelte ihren Opfern vor, partnersuchende Menschen in der echten Welt zu vermitteln, Kontakte zu Frauen und Männern auf der Suche nach Liebe oder Freundschaft herzustellen. Doch stattdessen schickten die Kunden ihre Chatnachrichten nur an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Firma und tauschten sich mit denen aus. Mit ihrer Masche und den Flirtcoins scheffelte die Flensburger Bande bei Opfern weltweit 17,7 Millionen Euro. Jetzt liegt die Anklageschrift bei einem Flensburger Gericht.
Kriminaliät Schleswig-Holstein: 33.738 Betrugsfälle einer Bande
Mit der Überführung der Bande tat die Polizei zugleich etwas für ihre Aufklärungsquote: Die war 2022 in Schleswig-Holstein mit 61 Prozent so hoch wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1963, wie Sütterlin-Waack sagte. Rechnet man allerdings die auf einen Schlag aufgeklärten fast 34.000 Fälle aus der Online-Liebesgaukelei heraus aus der Statistik, sinkt auch die Aufklärungsquote deutlich auf 54,1 Prozent.
Das heißt aber auch: Die Polizei hat immer noch mehr als jeden zweiten Fall aufgeklärt. Sütterlin-Waack nannte das „beachtlich“. Um die Sicherheitslage im Land vergleichbar zu machen, setzen die Polizeien Straftaten auch immer in Beziehung zu Einwohnern. Demnach stieg die Zahl der Straftaten im Norden von 6077 Straftaten pro 100.000 Einwohner im Jahr 2021 auf zuletzt 7570.
Messerattacken auch vor Brokstedt schon drastisch gestiegen
Nach der Messerattacke von Brokstedt, bei dem ein 33-Jähriger in diesem Januar in der Regionalbahn nach Hamburg zwei junge Menschen tötete und mehrere Fahrtgäste zum Teil schwer verletzte, ging die CDU-Politikerin Sütterlin-Waack auch auf die Messerangriffe im vergangenen Jahr ein. Die sind gegenüber 2021 dramatisch gestiegen.
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So registrierte die Polizei im Norden 2022 insgesamt 909 Messerangriffe. Das sind 100 Fälle mehr als im Jahr zuvor. Von den 1.148 Opfern wurden 14 getötet und 62 schwer verletzt. Die Polizei hat zu den 909 Fällen 811 Tatverdächtige erfasst, 63 Prozent haben einen deutschen Pass, 37 Prozent sind nichtdeutscher Herkunft.
Deutlich mehr schwere Sexualdelikte
Ein „sehr trauriges Thema“ (Sütterlin-Waack) sei der starke Anstieg der Zahlen um mehr als 20 Prozent bei den sogenannten schweren Sexualdelikten. 422 Fälle wurden 2022 bekannt, bei denen Frauen in Schleswig-Holstein vergewaltigt oder sexuell genötigt wurden. Das sind 74 Opfer mehr als 2021.
Bereits reagiert hat das Land auf den befürchteten weiteren Anstieg von sexuellem Missbrauch von Kindern und der Verbreitung im Internet. Schwarz-Grün hat insgesamt 30 zusätzliche Stellen bei der Landespolizei und 20 bei der Cyberhundertschaft für die Bekämpfung von Kinderpornografie bewilligt. Weil die Fotos und Filme so furchtbar und belastend sind, die auch sehr junge Polizisten auswerten müssen, investiert das Land in eine spezielle Bilderkennungssoftware, die den Beamten die Arbeit erleichtern soll.
Kriminalität in Schleswig-Holstein: Personal fehlt
Bislang reicht das Personal der Polizei nicht aus, tiefer in diesen Deliktbereich einzusteigen und ihn von sich aus aufzuhellen. Noch ist es so: Bekommt die Polizei neue Datensätze zugespielt – zum Beispiel von US-Fahndern, dann hat es für sie oberste Priorität, Kinder zu schützen und laufende Missbrauchstaten zu stoppen. Darunter leidet aber die Aufklärung der Fälle. „Wir mussten uns angesichts der mangelnden Personalreserven auf Schnellauswertungen der Daten konzentrieren, sagte Rolfpeter Ott.
Der Abteilungsleiter im LKA nannte weitere Zahlen. So ist die Zahl der Drogendelikte nach einem Zehnjahreshoch im Jahr 2021 jetzt wieder gesunken, aber die der Raube um 24 Prozent gestiegen, die der Körperverletzungen um 14,5, die der Diebstähle um 10.000. Erstmals seit 2015 hat auch die Zahl der Wohnungseinbrüche wieder zugenommen. Und zwar um 19 Prozent auf 2675 Fälle. Auch hier vermutet die Polizei einen Corona-Effekt nach deutlich niedrigeren Zahlen in den beiden Pandemiejahren 2021 und 2022 mit viel Arbeit im Homeoffice und wenig Urlaubsreisen. Eine letzte Zahl aus der Statistik: Die Polizei in Schleswig-Holstein hat 2022 bei Kriminellen fünf Millionen Euro sichergestellt und „arrestiert“.
Ott warnte vor Betrugsmaschen im Internet und falschen Polizisten. „Die Leichtgläubigkeit“ vieler Schleswig-Holsteiner sei immer ein großes Problem – trotz aller Mahnungen und Hinweise.