Papenburg. Meyer ist die Wiege der Kreuzfahrtriesen. Was hinter dem Unternehmen steckt, das als Aushängeschild für das Emsland gilt.
Wer sich Papenburg von der Autobahn 31 aus annähert, erkennt schon aus der Ferne, wo Ostfriesland endet und das Emsland beginnt. Etwa zwei Kilometer nordwestlich, unmittelbar nach einer leichten Rechtskurve, gibt die platte Landschaft den Blick frei auf die Grenze, die hier ein kurzes Stück dem natürlichen Verlauf der Ems folgt.
Wie eine Mauer ragt dort etwas empor. Eine weiße Wand, mit vielen Fenstern, Balkonen – und einem Schornstein obendrauf. Die „Arvia“, 344 Meter lang, 20 Decks hoch, mit Platz für 5200 Menschen. Ein Kreuzfahrtschiff kurz vor seiner Auslieferung. Und ein Markenzeichen dieser Stadt von knapp 40.000 Einwohnern, die heute weltweit vor allem über ihren größten Arbeitgeber definiert wird: die Meyer Werft.
Papenburg: Ohne Meyer Werft nur Moor-Wandern
Auswärtige staunen bei diesem Anblick, der sich etwa dreimal im Jahr bietet, wenn ein fast auslieferungsfertiger Ozeanriese im Werfthafen liegt. Einheimische erfüllt er mit Stolz, vermittelt ihnen ein Gefühl des Nachhausekommens und des Zuhauseseins.
„Es gibt kaum eine Familie in der Stadt, die niemanden kennt, der auf der Werft gearbeitet hat oder noch arbeitet“, sagt Vanessa Gattung, die junge Bürgermeisterin. „Viele hier haben Kapitäne als Vorfahren. Jeder kann dazu eine Geschichte erzählen“, bestätigt Sabine Pinkernell, die Museumschefin. „Ohne die Werft wäre die Region nur eine schöne Gegend zum Radfahren und zum Wandern im Moor“, gibt auch Christoph Assies zu, der Sprecher von Papenburg Marketing.
Meyer Werft Papenburg: Wie alles anfing
Die Werft, sie ist also so etwas wie das Herz dieser Stadt, obwohl an ihrem Rand gelegen. Ein Ort in der Provinz, an dem Fernweh erwächst und Urlaubsträume Gestalt annehmen. Selbst wenn sie hier noch nach Stahl und Schweißarbeiten riechen, nicht nach salziger Meeresluft. Das echte Meer liegt rund 40 Kilometer nordwestlich entfernt. Wie kann man bloß auf die Idee kommen, hier Schiffe zu bauen? Und dann noch so große?
Die Suche nach einer Erklärung beginnt gut drei Kilometer südöstlich der Werft. Dort ducken sich einige unscheinbare Backsteinhäuser am Ufer des Splittingkanals, eine der vielen künstlich angelegten Wasserstraßen, die Papenburg durchziehen. „Van-Velen-Anlage“ heißt das Ensemble.
Vor dem Häuschen ganz vorn am Kanal sitzt Hans Vosse in einem Sessel aus Korbgeflecht, lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen und wartet auf Besucher. Der 75-Jährige ist ein wandelndes Geschichtsbuch, er weiß alles über Papenburgs Vergangenheit – und erzählt auch gern davon.
Die erste und längste Fehnkolonie Deutschlands
Vosse hält das Jahr 1631 für ein besonders bedeutendes in der Papenburger Geschichte. Es ist jene Zeit, in der Drost Dietrich Graf von Velen beschließt, genau hier, auf dem ihm überlassenen Land, eine Fehnkolonie nach holländischem Vorbild zu errichten, also Moor zu besiedeln und Torf abbauen zu lassen. Es soll die erste Fehnkolonie Deutschlands werden – und bis heute die längste bleiben.
Doch der Weg dorthin ist beschwerlich. „Zunächst mussten Kanäle gegraben werden, um das Land zu entwässern“, sagt Hans Vosse. „43 Kilometer lang, 14 Meter breit, 1,80 Meter tief.“ Die ersten Siedler leben in Plackenhütten ohne Fenster, sie schlafen im Sitzen, weil das Moor giftige Gase ausdünstet, die sich in Bodennähe halten. Die Kindersterblichkeit ist hoch, das Durchschnittsalter liegt unter 30.
Ein Schlüsselsatz in Papenburgs Geschichte
1638 beginnt der Torfabbau. „Und mit ihm entstehen die ersten Tagewerksschiffe. Das sind Plattbodenboote, auf die ein Tagewerk passte: 10.000 Stück Torf, gestochen von fünf Personen“, berichtet Vosse.
An diesem Punkt der Geschichte kommen nun die Ostfriesen ins Spiel. Sie wollen Torf, und sie haben Ziegelsteine. „Für 10.000 Stück Torf gab‘s 23 Steine“, so Vosse. Ein gemauertes Haus zu bauen dauert unter diesen Umständen drei Generationen. „Dem Ersten der Tod, dem Zweiten die Not und dem Dritten das Brot“ – ein Schlüsselsatz in Papenburgs Geschichte.
Papenburg hatte mehr Großsegler als Hamburg
Vosse eilt nun zum Ufer des Splittingkanals, in dem ein altes Tagewerkschiff liegt. „Die Papenburger dachten: Wenn wir kleine Schiffe bauen können, dann können wir auch große bauen.“ 1780 beginnt die Blütezeit der Segelschifffahrt, 1860 erreicht sie ihren Höhepunkt. „23 Schiffswerften gab es in Papenburg. Jedes Jahr wurden 60 Schiffe gebaut. Mehr als 200 Großsegler hatten wir im Einsatz, mehr als Hamburg.“
Er blickt den Kanal entlang, als halte er Ausschau nach einem schwer beladenen Großfrachter aus Übersee, der unter vollen Segeln einläuft, holt tief Luft, seufzt. „Ja, wir waren eine Macht!“ Doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommen die ersten Stahlschiffe auf. Die Papenburger Reeder sind außer sich ob dieses Schwachsinns, einer von ihnen wirft der Legende nach ein Hufeisen in den Kanal, das dann auch prompt untergeht. Der Beweis dafür, dass Metall nicht schwimmen könne.
Und dann zeigt sich, was passieren kann, wenn der Falsche zum falschen Zeitpunkt ein Hufeisen ins Wasser wirft. Alle sind ganz schnell pleite. Fast alle. Josef Lambert Meyer (1846–1920) beurteilt den Sachverhalt mit dem Hufeisen etwas anders. Der Rest ist bekannt.
Papenburger Museum als neueste Attraktion
Sabine Pinkernell ist Geschäftsführerin der städtischen Tochtergesellschaft LGS gGmbH und verantwortet außer Citymanagement und Touristeninformation auch die neueste Attraktion der Stadt. In einem alten Backsteinspeicher auf dem früheren Betriebsgelände der Meyer Werft hat Papenburg für 3,6 Millionen Euro ein Geschichtsmuseum mit dem Schwerpunkt Schifffahrt erschaffen, „Maritime Erlebniswelt“ genannt und im Mai 2022 eröffnet.
Es ist eine auch interaktive Mitmachausstellung, die den ganz großen Bogen schlägt von der Moorsiedlung bis zur Traumschifffabrik. Besucher können ein virtuelles Schiff konfigurieren und auf wandfüllenden Bildschirmen dessen Stapellauf anschauen – mittendrin im Papenburg der 1850er-Jahre.
„Näher kommt man dem Schiffbau nirgendwo auf der Welt”
Doch auch auf der Werft von heute sind nicht grundlos Busse geparkt, von Tor 1 sind es nur ein paar Hundert Schritte bis zum Besucherzentrum. Dort steht Oswald Tinnemeyer vor dem originalgroßen Modell einer Schiffsschraube, das ihn deutlich überragt, und erklärt einer Reisegruppe, wie moderner Passagierschiffbau funktioniert.
Mit rund 250.000 Gästen in normalen Jahren ist das Besucherzentrum der Meyer Werft die Hauptattraktion der Stadt, Papenburg Marketing mit Christoph Assies betreibt es in Meyers Auftrag. Die Gäste können dort durch eine Glasscheibe von einer Galerie aus direkt in die Produktion blicken. „Näher kommt man dem Schiffbau nirgendwo auf der Welt”, sagt Assies.
Werftarbeiter protestierten gegen Besucherzentrum
Begonnen hat die Geschichte dieser Einrichtung vor 30 Jahren mit einer kleinen Tribüne. Die Bevölkerung sollte sehen können, wie die großen Schiffe gebaut werden. Die Werftarbeiter, berichtet Assies, hätten zunächst dagegen opponiert, weil sie sich ausgestellt gefühlt hätten, ein bisschen wie im Zoo.
Inzwischen ist die Anlage 3500 Quadratmeter groß, in neun Themenwelten gegliedert und bietet Einblick in vier Originalkabinen der neuesten Ozeanriesen. In einem Panoramakino läuft, opulent in Bild und Musik, der Imagefilm „Sinfonie der Meere”. Botschaft: Ein Schiff zu bauen steht einer Komposition in nichts nach.
Meyer Werft baute mehr als 700 Schiffe
716 Partituren haben sie laut firmeneigener Chronik bisher bei Meyer komponiert, die „Arvia“ für die Reederei P&O Cruises ist beim Besuch unserer Redaktion die jüngste. Viele Schiffe sind im Besucherzentrum als Modell zu sehen, darunter moderne Legenden wie die „Quantum of The Seas“ (Baujahr 2014, Nummer 697), aber auch die „Homeric“ mit der Nummer 610 – das erste, 1985 von Meyer gebaute Kreuzfahrtschiff, welches mit 204 Metern Länge für heutige Verhältnisse eher klein ist und die letzte Fahrt Richtung Türkei bereits angetreten hat. Dort werden einst stolze Cruiseliner abgewrackt.
Nummer 717 liegt im Herbst 2022 gerade im Trockendock, mit mehr als einem halben Kilometer Länge, 125 Meter Breite und 75 Meter Höhe das größte überdachte Dock der Welt.
Der Kran an der Decke erreicht jeden Winkel der Halle und kann 800 Tonnen heben. Zuerst werden dort Stahlkammern von der Größe etwa einer Kabine zusammengeschweißt, dann zu sogenannten Sektionen vereint, schließlich werden daraus Blöcke. „Sieben bis zehn Sektionen ergeben einen Block, 80 bis 100 Blöcke ein Schiff“, erklärt Meyer-Sprecher Florian Feimann unten in der Halle. 80.000 Quadratmeter Fläche, 400 Kilometer Rohrleitungen hat so ein Schiff.
Meyer Werft Papenburg ist stolz auf Flexibilität
Nummer 717 war ursprünglich als „Aida Helios III“ geplant, nun wird es die „Carribean Jubilee“ für denselben Konzern, nur für eine andere Marke, aber auch mit LNG-Antrieb. „In Nordamerika spielt Corona keine Rolle mehr, da hat sich das Kreuzfahrtgeschäft noch schneller erholt als in Deutschland“, sagt Feimann und hebt stolz die Flexibilität der Papenburger Schiffsbauer hervor.
Ein anderes Branding brauche der Luxusliner jetzt, „und ob nun eine 300 Meter lange Wasserrutsche aufs oberste Deck kommt oder eine 200 Meter lange Achterbahn, macht dann auch keinen großen Unterschied mehr“.
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1000 bis 2000 Menschen arbeiten gleichzeitig an einem Schiff, rund 1300 Ingenieure beschäftigt die Meyer Werft. Ganz oben auf der Agenda stehen umweltfreundliche Antriebe – neben LNG, das Experten als Brückentechnologie sehen – etwa mit Brennstoffzellen. Ein weiteres neues Geschäftsfeld Meyers sind schwimmende Immobilien. Feimann: „Was wir auf unseren Schiffen machen, nämlich eine autarke Kleinstadt bauen – das kann man in den Wohnungsbau übertragen.“