Hamburg. Ein Fall, der noch immer Rätsel aufgibt: Im Sommer 2015 verschwindet eine Familie. Nur der Vater wird tot entdeckt. Was ist passiert?

Ein Fall, der auch Jahre später Rätsel aufgibt: Eine ganze Familie verschwindet, und bis heute ist das Schicksal zweier dieser Menschen nicht geklärt. Es ist eine Familie, die in scheinbar sehr geordneten, geradezu idyllischen Verhältnissen lebt. Nichts deutet darauf hin, dass sich ein Drama ereignen würde.

Es ist der 22. Juli 2015, als die drei von einem Moment zum anderen wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheinen. Die zwölfjährige Tochter Miriam hat ihren lang ersehnten Reiturlaub nicht angetreten. Die Mutter Sylvia ist plötzlich nicht mehr zur Arbeit bei einem Discounter erschienen. Der Vater Marco S. wird zuletzt gesehen, als er noch am Abend die Mülltonne für die Abfuhr bereitstellt – und offensichtlich abtaucht.

Im wahrsten Sinne des Wortes, wie eine Woche später klar wird. Dann wird der Leichnam des 41-Jährigen in der Elbe entdeckt. Doch seine 43 Jahre alte Frau Sylvia und seine Tochter Miriam sind auch Jahre, nachdem sie zuletzt gesehen worden sind, unauffindbar. Sie sind es bis heute. Sehr wahrscheinlich sind Mutter und Tochter tot. Theoretisch ist auch möglich, dass sie irgendwo ein neues Leben begonnen haben. Aber wer verlässt schon freiwillig auf Dauer sein Zuhause, ohne seinen Ausweis einzustecken? Ohne irgendwelches Gepäck?

Der Fall Drage: Eine Familie verschwindet

Als die Familie verschwunden ist, durchsuchen Beamte deren Haus. Es sieht aus wie ein Heim, dessen Bewohner nur mal kurz zur Tür hinaus sind. Die Katzen stromern durch das Haus, die Fenster stehen auf Kipp, Portemonnaies und Ausweispapiere sind noch da. Auch beide Autos stehen im Carport. „Es findet sich kein Abschiedsbrief. Auch gibt es nirgendwo Blutspritzer oder Kampfspuren, die auf ein Gewaltverbrechen hindeuten würden“, berichtet Rechtsmediziner Klaus Püschel im Abendblatt-Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ mit Gerichtsreporterin Bettina Mittel­acher. Gemeinsam haben sie den Fall auch in ihrem Buch „Vermisst“ geschildert.

„Wir machen uns alle so schreckliche Sorgen, dass etwas ganz Schlimmes passiert ist“, sagt eine Nachbarin, deren Tochter mit der zwölfjährigen Miriam in den Reiterurlaub hatte fahren wollen. Schließlich, mehr als eine Woche nach dem Verschwinden der Familie, entdecken Spaziergänger einen menschlichen Körper, der in der Elbe treibt. Polizei und Feuerwehr bergen den Toten. „Anhand des Zahnstatus wird er schließlich einwandfrei als der vermisste Marco S. identifiziert“, erzählt Püschel.

„Es werden äußerlich am Leichnam keine Merkmale für Gewalteinwirkung festgestellt. Die Todesursache war Ertrinken.“ Aber: Am Körper des Mannes befindet sich ein mit einem Gurtsystem befestigter Betonfuß eines Bauzaunes mit einem Gewicht von rund 35 Kilo. Weil der Leichnam durch zunehmende Fäulnis immer stärker Auftrieb bekommen hatte, war er trotz der extremen Beschwerung mit dem Betonblock nicht am Grund der Elbe verblieben.

Die Tat wird nun so rekonstruiert, dass Marco S. sich mit dem umgeschnallten Betonklotz ins Wasser fallen ließ. Miriam und Sylvia S. bleiben verschwunden. Mittlerweile ermittelt die Polizei in Richtung eines „erweiterten Suizids“. So nennen Juristen und Psychologen eine Verzweiflungstat, bei der sich jemand das Leben nimmt und Familienmitglieder gewissermaßen „in den Tod mitnimmt“ beziehungsweise sie vorher umbringt.

Seit fünf Jahren fehlt von Mutter und Tochter jede Spur

In den nächsten Wochen sucht die Polizei weiter nach Mutter und Tochter. Unter anderem wird entlang der Elbe das Ufer durchkämmt, auch mit Leichenspürhunden. Ein Helikopter mit Wärmebildkamera kreist über dem Gelände. Doch es gibt keine neue Spur. „Jetzt muss man trotz aller Hoffnung davon ausgehen, dass wir die beiden nicht mehr lebend finden“, sagt ein Polizeisprecher.

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Schließlich kommt doch noch ein Zeugenhinweis. Eine Frau meldet sich bei der Polizei, die die Familie am Tag ihres Verschwindens am Mühlenteich in Holm-Seppensen beobachtet haben will. Aber auch dort bleibt eine intensive Suche nach dem Verbleib von Mutter und Tochter ohne Ergebnis.

Denkbar sind vier Szenarien: Marco S. hat die Familie getötet und danach sich selbst. Oder: Sylvia S. hat ihren Mann getötet und sich anschließend mit der Tochter ins Ausland abgesetzt. Möglich wäre auch, dass ganz andere Täter Marco S. oder die ganze Familie auf dem Gewissen haben. Und schließlich: Sylvia S. könnte sich von ihrem Mann getrennt und heimlich mit ihrer Tochter im Ausland ein neues Leben begonnen haben. Marco S. hat die Trennung von seiner Familie nicht verwunden und sich in der Elbe ertränkt. Das wahrscheinlichste Szenario bleibt, dass Marco S. beide getötet hat, bevor er Suizid beging.