Hamburg. Im neuen Buch des Hamburger Autorenduos Bettina Mittelacher und Klaus Püschel geht es um Menschen, die spurlos verschwinden.
Ein Mädchen, zehn Jahre alt, geht kurz Süßigkeiten kaufen. Doch es kommt nicht zurück, ist wie vom Erdboden verschluckt. Stunden vergehen, aus Stunden werden Tage, aus Tagen Wochen, Monate und schließlich Jahre. Die Eltern haben längst – und nicht nur einmal – alle Kontakte befragt, Freunde, Verwandte, Mitschüler. Sie kehren wieder und wieder zu jenem Ort zurück, wo Zeugen die Kleine zuletzt lebend gesehen haben. Pausenlos drehen sich die Gedanken im Kopf, und das Karussell hält nie an. Doch je mehr Zeit vergeht, desto mehr schmilzt die Hoffnung, bis nach mehr als 20 Jahren auch der kleinste Funke erloschen ist. Nur der Schmerz, das Nicht-Wissen, die Verzweiflung – das alles bleibt.
So ist es in Hamburg geschehen. Über den Fall der zehn Jahre alten Hilal Ercan, seit 1999 vermisst, wurde dutzendfach berichtet, etwa in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“. Hunderte Hinweise gingen ein, keiner führte zum Erfolg. Hilal ist verschwunden, bleibt verschwunden. So wie Rebecca aus Berlin, Inga aus Thüringen und Debbie aus Düsseldorf.
Beklemmend: Das spurlose Verschwinden von Menschen
Welche Qualen auch die Angehörigen dauerhaft vermisster Menschen erleiden müssen, lässt sich kaum ermessen. Da ist es hilfreich und mitunter sehr berührend, dass der ehemalige Leiter der Hamburger Rechtsmedizin am UKE, Professor Klaus Püschel, und Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher diesem wichtigen Aspekt in ihrem fünften gemeinsamen Buch mit dem Titel „Vermisst“ genügend Raum geben. Nach mehreren Streifzügen durch die morbide Welt der Serien-, Psycho- und Sexualmörder befasst sich das Hamburger True Crime-Autorenduo, bekannt auch aus dem Abendblatt-Podcast „Dem Tod auf der Spur“, in seinem neuesten Werk mit aufgeklärten und nicht aufgeklärten Kriminalfällen, die beklemmender kaum sein könnten: dem spurlosen Verschwinden von Menschen.
Dazu gehört etwa ein längeres Kapitel über die berühmten „Göhrde-Morde“, aber auch jene unter dem Schlagwort „Disco-Morde“ bekannt gewordene Vermissten-Serie, die zwischen 1977 und 1987 den Elbe-Weser-Raum erschütterte. In diesem Zeitraum verschwanden 13 junge Frauen nach Disco- oder Kneipenbesuchen. Die Serie endete, nachdem 1987 die mit mehr als 60 Messerstichen übersäte Leiche der 16 Jahre alten Schülerin Sonja A. an einem Feldweg nahe Bremervörde entdeckt worden war. 2008 wurde der Fall neu aufgerollt – ein Verdächtiger wurde jedoch erst 2009 und nach erneuter Verhandlung 2011 vom Gericht freigesprochen.
Die Vermutung liegt nahe, dass über Jahre vermisste Menschen Opfer eines entsetzlichen Verbrechens werden, doch trifft das nicht immer zu. Mitunter wird der eigene Tod auch vorgetäuscht, um etwa eine fürstliche Versicherungssumme einzustreichen. Bei Andre K. ging es im April 1994 um eine Million Mark. Der 44-Jährige schipperte damals mit seinem Boot „Tukka“ auf der Elbe in Richtung Brunsbüttel, als es in Flammen aufging.
Rechtsmediziner Püschel weiß die Leichen zu lesen
Während sich seine Ehefrau und sein Vater in ein Beiboot retten konnten, blieb Andre K. nach dem Inferno verschollen. Doch die Polizei glaubte nicht an ein Unglück: Fünf Jahre später trafen Beamte den hoch verschuldeten und vermeintlich verschollenen Mann quicklebendig im Haus seines Vaters in Pankow an. Er wurde im Jahr 2000 zu einer Bewährungsstrafe wegen Betrugs verurteilt.
Die Kapitel sind nicht bloß eine Revue von Kriminalfällen, in denen Menschen – gewollt oder ungewollt – verschwinden. Immer geht es auch um das Potenzial der Rechtsmedizin. Wie sie dazu beiträgt, mithilfe modernster Methoden Vermisstenfälle aufzuklären. Wie sie Menschen ins Licht zurückholt, die – im Wasser versenkt oder in Betonblöcken eingemauert – nie gefunden werden, deren Identität nie enthüllt und deren Geschichten für immer ein Geheimnis bleiben sollten.
Und es ist beeindruckend, wie Püschel auch nach Jahrzehnten die teils bis zur Unkenntlichkeit verwesten Leichen wie ein Buch zu lesen vermag. Jedes kleinste Detail, jeder Knochen, jeder Zahn, so die Erkenntnis, kann helfen, eine Tat, eine Geschichte, ein Schicksal zu rekonstruieren. Dabei geht es in den fachlichen Passagen so fundiert wie konkret zur Sache, ein gewisses Interesse für die Forensik ist bei der Lektüre des Buches hilfreich, ein robustes Verhältnis zu plastischen Schilderungen aus dem Bereich der Rechtsmedizin unabdingbar.
Autorenduo gibt Einblicke in spannende Kriminalfälle
Schwer zu ertragen ist etwa das Kapitel „Der unsichtbare Junge“ über den zu Tode gequälten zweijährigen Kevin aus Bremen. Der drogensüchtige Vater hatte das Kleinkind schwerst misshandelt und Kevins Leiche über längere Zeit im Kühlschrank versteckt. Und im Kapitel über eine seit 2015 vermisste Familie aus Drage referiert das Autoren-Duo detailliert, wie Familienvater Marco S. nach dem Auffinden seiner Leiche in der Elbe durch rechtsmedizinische Verfahren identifiziert werden konnte. Ja: Auch Wasserleichen und die damit zusammenhängenden physikalischen Phänomene sind wiederkehrende Sujets in „Vermisst“.
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Im Grunde hält das Autorenduo auch im neuesten Werk an seinem Konzept fest, spannende Kriminalfälle mit verständlich geschriebenen Einblicken in die dem Leser meist fremde und etwas unheimliche Welt der Rechtsmedizin zu verquicken. Dabei sind ihre wissenschaftlichen Befunde häufig der Schlüssel zur Aufklärung schwerster Verbrechen und diese mithin ein Beleg dafür, was das Buch im Untertitel verspricht: „Die Wahrheit ist der beste Krimi.“