Drage. Vor fünf Jahren verschwand die Familie – und bis heute weiß niemand, warum das geschah. Die Fakten eines rätselhaften Falles.

Es ist eines der rätselhaftesten Verbrechen im Norden: das plötzliche Verschwinden der Familie Schulze aus Drage an der Elbe. Fast genau fünf Jahre ist es nun her, dass Marco (damals 41), Sylvia (43) und Tochter Miriam (12) lebend gesehen wurden. Nur die Leiche des Vaters wurde gut eine Woche später gefunden. Marco Schulze hatte sich mit tödlicher Konsequenz an einen mehr als 20 Kilogramm schweren Betonklotz gegurtet, war von einer Brücke in die Elbe gesprungen und ertrunken.

Von Mutter und Tochter fehlt jede Spur. Es gibt auch wenig Hoffnung, dass sich das je ändern könnte. Die Polizei hat den Fall längst zu den Akten gelegt. Zurück bleibt die Tochter (damals 24) aus erster Ehe, Sabine Zunker, die an jenem Julitag auf einen Schlag Mutter, Stiefvater und Stiefschwester verloren hat. Warum?

Die Polizei hat damals einiges unternommen, um diese Frage zu klären. Nachbarn und Arbeitskollegen wurden befragt, Hubschrauber und Taucher kamen zum Einsatz. Ergebnis: Marco Schulze hat Frau und Tochter umgebracht und sich dann selbst getötet. „Erweiterter Suizid“ lautet der Fachbegriff der Kriminalisten. Aber ein Motiv für diese schreckliche Tat – das haben sie nicht gefunden.

Es bleiben nur ein paar dürre Fakten zu dem Fall

Und so bleiben nur ein paar dürre Fakten. Marco wird als fürsorglicher Mensch beschrieben, als Kumpeltyp. 2002 hatte er Sylvia kennengelernt, damals alleinerziehende Mutter. Sabine Zunker, die gelegentlich in Talkshows auftritt, sagte: „Es ist fröhlicher geworden in der Familie, als er da war.“ Bald kam die gemeinsame Tochter Miriam auf die Welt. In Drage baute sich das Paar mit viel Eigenarbeit ein Haus – schmucker Rotklinker, Sprossenfenster, Walmdach. Eine typische Aufsteigergeschichte. Beide arbeiteten in Geesthacht: er in einer Chemiefabrik, sie als stellvertretende Filialleiterin in einem Discounter. Sabine zog bald aus. Am Stiefvater lag das nicht, sagt sie. Sie verstand sich damals nicht so gut mit ihrer Mutter.

Im Juli 2015 dann die Katastrophe, die offenbar ohne jedes von außen wahrnehmbares Vorzeichen über die kleine Familie hereinbricht. Trennungsgerüchte, die später aufkommen, lassen sich nicht erhärten. Miriam bleibt an jenem 22. Juli, dem letzten Schultag vor den Sommerferien, zu Hause, weil sie Bauchschmerzen hat. So berichten es die Eltern jedenfalls der Schule. Marco Schulze hat einen freien Tag und bleibt bei Miriam, seine Frau fährt zur Arbeit nach Geesthacht und kommt nachmittags wieder.

Nichts deutet auf ein Verbrechen hin

Und dann? Miriam und Sylvia werden nicht mehr gesehen. Gegen 19 Uhr, so schilderte es Sabine Zunker später, habe der Großvater bei den Schulzes angerufen. Marco Schulze geht ans Telefon und sagt, dass Sylvia und Miriam schon schlafen würden. Kurz darauf stellt er die Mülltonnen an die Straße. Am 23. Juli erscheint die Mutter nicht am Arbeitsplatz, ebenso am Tag darauf. Im Discounter ist man beunruhigt. Sylvia Schulze ist eine zuverlässige Mitarbeiterin. Der Filialleiter alarmiert die Polizei.

So fahndete die Polizei damals nach (v. l.)  Miriam, Sylvia und Marco Schulze.
So fahndete die Polizei damals nach (v. l.) Miriam, Sylvia und Marco Schulze. © picture alliance

Die öffnet das Haus und findet niemanden. Nichts deutet auf ein Verbrechen hin. Alles ist so sauber und ordentlich, wie es bei den Schulzes eben war. Die beiden Autos stehen im Carport, der Wäscheständer ist belegt, die Geschirrspülmaschine durchgelaufen. Gleich könnte jemand nach Hause kommen. Aber es kommt niemand.

Aktive Ermittlungen gibt es nicht

Am 31. Juli wird in der Elbe unweit der Lauenburger Brücke eine Leiche entdeckt. Es ist Marco Schulze. Mit einem der Familienfahrräder ist er offenbar die rund 25 Kilometer von Drage nach Lauenburg gefahren. Das Rad wird unterhalb der Brücke im Strom gefunden. Miriam und Sylvia Schulze bleiben verschwunden. Sabine Zunker glaubt, dass ihr Stiefvater die Tat geplant hat. Er habe ihr deutlich vor dem 22. Juli eine WhatsApp-Nachricht geschickt – vordergründig eine Gratulation zu ihrer Schwangerschaft. Erst später wird ihr klar: Das seien „typische Abschiedsworte“ gewesen.

Und so ist es durchaus möglich, dass Marco Schulze das Verschwinden seiner Familie akribisch vorbereitet hat. Und dass die Polizei an dieser Akribie gescheitert ist. Deshalb ist es zwar richtig, wenn die Polizei auch fünf Jahre nach dem „erweiterten Suizid“ sagt, die Akten blieben offen. Der Fall sei eine Vermisstensache und verjähre damit grundsätzlich nicht. Aktive Ermittlungen gibt es allerdings nicht. Die Sonderkommission ist längst aufgelöst. Selten gehen bei der Polizei vage Hinweise ein, die aber nichts erbracht haben. Zwischendurch hat sich ein mit dem Fall nicht vertrauter Ermittler die Akten erneut vorgenommen. Haben die Kollegen damals, 2015, vielleicht etwas übersehen? Nein. Nichts.

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Das Walmdachhaus mit den Sprossenfenstern und dem Rotklinker-Mauerwerk, das von bescheidenem Wohlstand und Familienglück kündete, wurde schon vor Jahren verkauft und ist wieder bewohnt. Sabine Zunker hätte es gern erworben, aber das Geld fehlte. Und so ist auch ihr Trauerort irgendwie verschwunden.