Boostedt. In dem Dorf in Schleswig-Holstein herrscht Perspektivlosigkeit. Der Bürgermeister schlägt Alarm – und wird zum Feindbild.
Hartmut König spricht eindringlich, emotional, mehrfach scheinen ihn seine Gefühle zu überwältigen. „Ich bin fast froh, dass ich es so gesagt habe. Aber für mich tut es mir fast schon leid. Man liegt abends daheim im Bett und denkt: Was geht hier eigentlich ab?“ Er habe E-Mails erhalten, überwiegend negativ, Briefe an seine Privatadresse. „Es hat etwas Beklemmendes, wie sich Menschen benehmen.“ Der böse Vorwurf: Er würde Hass auf Asylsuchende schüren.
Seitdem der 59 Jahre alte CDU-Bürgermeister von Boostedt vor gut einer Woche auf die Probleme rund um die 2016 aufgelöste Rantzau-Kaserne, wo knapp 1300 Asylsuchende in einer Erstaufnahmeeinrichtung leben, hingewiesen hat, befindet er sich im Zentrum einer Debatte. Seine Heimatgemeinde, die ja immer noch ein Dorf mit rund 5000 Einwohnern ist, gilt plötzlich als Symbol für gescheiterte Asylpolitik.
Ruf nach der Polizei
Herumstreifende Gruppen junger Männer, ein Anstieg der Kleinkriminalität, belästigte Frauen, von Ruhestörung genervte Anwohner, die ehrenamtliche Willkommenskultur am Ende und eine Regierung in Kiel, die sich nicht kümmert. Boostedt, das Ankerzentrum durch die Hintertür für Menschen ohne Perspektive, die nichts zu verlieren haben. Dieses Bild zeichnete Hartmut König.
Als Sofortreaktion hat das Land die Polizeipräsenz erhöht: 25 statt 15 Beamte in der Unterkunft, rund um die Uhr ist die Wache jetzt besetzt. Auch das Deutsche Rote Kreuz ist mit seiner Hausbetreuung nun über Nacht vor Ort. „Davor war immer Remmidemmi, fast wie ein Dorffest, geöffnete Fenster waren nicht möglich“, sagt König. Er weiß es aus eigener Erfahrung. Der selbstständige Goldschmied wohnt in unmittelbarer Nachbarschaft. Dort hat sich die Situation gebessert, in den Straßen sei es generell in den letzten Tagen ruhiger geworden. „Ich möchte aber, dass die Polizei nicht nur mit Streifenwagen herumfährt, sondern auch fußläufig präsent ist.“
Es ist nur ein kurzer Fußweg, wenige Hundert Meter, vom Haupteingang der Erstaufnahme bis zum AKN-Bahnhof sowie den Edeka- und Nettomärkten. Der Bürgermeister nennt das den „Hotspot“. Hier treffen die Einheimischen auf die Fremden. Rund 800 der Asylbewerber, die hier täglich unterwegs sind, wissen, dass sie keine Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland haben. „Sie sitzen ihre Zeit ab“, sagt König.
Auf einer Bank nahe dem Kreisverkehr, gleichermaßen die Zufahrt zu Boostedt, sitzen drei Frauen. Sie kommen aus Nigeria, sagen sie. Alle drei sind schwanger. Jessica Fredrick (22) ist im fünften Monat, sie hat schon eine zweijährige Tochter, die im Kinderwagen schläft. „Ich bin dankbar, dass ich hier sein darf. Ich möchte dem Land etwas zurückgeben.“ In ihrer Heimat hat sie Business Administration studiert.
Flüchtlinge haben Hunger
Was aus ihr in Deutschland wird, weiß sie nicht. Dass es große Aufregung um die Bewohner der Landesunterkunft gibt, hat sie mitbekommen. „Die Flüchtlinge stehlen, weil sie Hunger haben.“ Nwariwe Chifumnanya Immaculeta sagt: „Sie behandeln uns gut im Camp. Aber das Essen gefällt uns nicht. Wir dürfen nicht selbst kochen.“ Sie ist in Italien zuerst registriert worden, dorthin ist sie geflogen – Jessica Fredrick und Mercy James, die dritte Frau, kamen in Booten über das Mittelmeer. Mehr sagen sie dazu nicht. Nwariwe weiß nicht, wie der Sachstand bei ihrem Asylverfahren aussieht. „Ich hoffe, ich habe meine Papiere, wenn das Baby da ist.“
Das wäre in drei Monaten. „Ich würde in Deutschland jeden Job annehmen.“ Hartmut David kennt viele der Migranten durch persönlichen Kontakt. Er ist Mitglied des Gemeinderats der Bartholomäus-Kirche, leitet die evangelische Kindertagesstätte und ist Ansprechpartner für die Flüchtlingsarbeit. „Ich habe keine schlechten Erfahrungen gemacht. Es sind mehr geworden, aber ich empfinde es nicht als unangenehm. Boostedt ist und bleibt ein Dorf. Dass Flüchtlinge hier im Dorf auftauchen, ist nicht ungewöhnlich.“ Sie seien ja nicht eingesperrt.
Menschen ohne Bleibeperspektive
David versucht, zu differenzieren. „Stecken Sie mal 800 Deutsche ohne Perspektive in eine Kaserne. Die Flüchtlinge bekommen mit, dass ein Großteil von ihnen zurück in ihr Land muss. Das macht den anderen wenig Hoffnung.“ Es gab bis vor Kurzem ein Flüchtlingscafé, eine Fahrradwerkstatt, beide sind eingestellt worden. Anfang 2018 hat der Verein „Willkommen in Boostedt“ seine Auflösung verkündet – weil die Menschen aus der Unterkunft das Angebot zur Integration kaum noch wahrnahmen.
„In der Erstaufnahme sind Menschen ohne Bleibeperspektive, keine Familien mehr, sondern junge Männer, die anders ticken. Es ist zu kritisieren, dass große Zentren geschaffen werden, wo man sie massiv zusammenfasst.“ Zurück im Ort. Ahmed (15), Kawa (18) und Navdar (21) vertreiben sich die Zeit, gehen spazieren. Manchmal laufen die drei jungen Syrer sogar die zehn Kilometer bis nach Neumünster. „Wir sind zu viele in Boostedt“, sagt Ahmed, der aus Damaskus stammt und zuerst in Italien europäischen Boden betrat – seine Freunde sind Kurden aus Aleppo.
AfD ist ihm fern
„Ich würde es gut finden, wenn man uns Flüchtlinge auf mehrere Unterkünfte verteilen würde.“ Bis zu seiner Flucht war er Schüler. „Ich würde gern in Deutschland bleiben. Aber natürlich vermisse ich meine Heimat.“ So schnell wie möglich würde er gern zurückkehren. „Aber das wird wohl schwer in den nächsten fünf Jahren.“ Fünf Jahre. So lange kann Hartmut König nicht warten. Er fühlt sich alleingelassen, rechte Onlinemedien feiern ihn zu allem Überfluss als Helden.
Dabei sei ihm nichts ferner als die AfD. „Das Thema wird von der falschen Seite vereinnahmt. Aber hätte ich denn nichts sagen sollen? Ich bin ja dafür da, ich bin kein normaler Bürger. Und meine menschliche Einstellung hat sich nicht geändert.“ Derzeit diskutiert die Gemeindepolitik über einen „Letter of Intent“, eine Absichtserklärung, die das Innenministerium vorgelegt hat. Die Erstaufnahme solle bis 2024 weiter betrieben werden, dann mit maximal 500 Bewohnern und einem Zusatzpuffer von 200.
Spitzenpolitik soll Verantwortung nachkommen
Die bisherige Nutzungsvereinbarung läuft 2019 aus. „In der Gemeindevertretung ist eine Mehrheit für den neuen Letter of Intent nicht erkennbar“, so König. Er fordert einen Vertrag mit rechtlich verbindlichen Aussagen. Und eine neue Strategie. „Ich maße mir an zu sagen: Eine dritte oder vierte Unterkunft, kleinteiliger, auch wenn es Geld kostet, würde die Akzeptanz erhöhen. Und das Ehrenamt kann dann wieder vernünftig arbeiten.“
Vermutlich am 19. September wird es in Boostedt eine Einwohnerversammlung geben. Hartmut König erwartet, dass dann nicht nur Staatssekretär Torsten Geerdts als sein bisheriger Ansprechpartner, sondern auch Schleswig-Holsteins Innenminister Hans-Joachim Grote (CDU) kommt. „Auch wenn ich König heiße – ich bin kein Alleinherrscher.“ Sprich: Die Spitzenpolitik soll ihrer Verantwortung nachkommen. Damit der Bürgermeister wieder besser schlafen kann.