Hamburg. Vor anderthalb Jahren war er noch weitgehend unbekannt. Nun will der Flensburger mehr: Parteichef werden.

Habeck lehnt sich auf“: Unter diesem Titel bringt Robert Habeck im Internet seine Anschauungen unters Volk. Kurze Filme, in denen der selbst ernannte Rebell mit sorgenvoll gefurchter Stirn zum Beispiel erklärt, dass die Grünen „ihr Gründungsversprechen erneuern“ müssten. Es klingt, als müsse man noch einmal heiraten, als müsse ein Eheversprechen erneuert werden. Am Wochenende plant Habeck (48) die Riesenhochzeit, die Verehelichung mit einer ganzen Partei: Er kandidiert für den Posten des Bundesvorsitzenden der Grünen. Falls sich niemand auflehnt.

Leitartikel: Einer wie Umweltminister Robert Habeck

Der Flensburger hat eine erstaunliche Karriere hingelegt. Er ist ja erst seit 2002 Mitglied der Grünen, er ist ja erst seit nicht einmal zehn Jahren Landtagsabgeordneter in Schleswig-Holstein. Landtagsabgeordneter! In Schleswig-Holstein! Man kann wirklich nicht behaupten, dass diese Position jemals dazu geeignet war, bei den Grünen Karriere zu machen. Der Landesverband ist viel zu klein, um in Berlin eine Rolle zu spielen. Aber Habeck hat es geschafft. Mit ein paar Tricks, mit überraschenden Entscheidungen und mit dem, was er am besten kann: Menschen für sich einnehmen. Eine sehr wertvolle Gabe, gerade für einen Politiker.

Im Norden groß geworden

Habeck ist im Norden groß geworden. In Lübeck kam er auf die Welt, in Heikendorf bei Kiel ist er aufgewachsen. Die Eltern führten die Apotheke am Rathaus, sie existiert heute noch. „Bürgerlich-konservativ“ nennt Habeck sein Elternhaus. Nach dem Abitur im Jahr 1989 haut er ab. Beim Hamburger Spastikerverein macht er Zivildienst. Ab 1991 studiert er in Freiburg Philosophie, Germanistik und Philologie. Eine Zeit intensiven Lesens beginnt. Die großen Philosophen faszinieren ihn, stundenlang hält er sich in der Universitätsbi­bliothek auf.

Die Politik ist weit weg. In Freiburg lernt er auch seine spätere Frau kennen, Andrea Paluch. Auf einer Erstsemesterparty sieht sie ihn tanzen. Bei der Bildung einer Theatergruppe treffen sie sich wieder. Sie stammt aus Hannover, er aus Kiel: zwei Norddeutsche in der Diaspora. Sie fahren gemeinsam nach Italien. In Pisa spielt sie vor dem Dom Querflöte, um das Geld für den abendlichen Wein zu verdienen. Den „Kieler Nachrichten“ hat Habeck unlängst erzählt, dass dies der Moment gewesen sei, als er sich verliebt habe.

Förderpreis für literarische Übersetzungen

Habeck bleibt nicht lange in Freiburg. Er wechselt mit einem Erasmus-Stipendium nach Roskilde in Dänemark. Andrea und Robert setzen dort ihre Studien fort. Sie wohnen in Kopenhagen, genießen die skandinavische Lebensart. Er lernt die Sprache und begreift, dass es nicht nur eine Seite der Betrachtung und der Beschreibung gibt. Dass viele Dinge vielmehr auch anders besehen und besprochen werden können. Die Politik ist immer noch weit weg.

Fliegender Robert

Wechsel nach Hamburg. An der Uni bringen beide ihr Studium zu Ende. 1996 heiraten sie, das erste Kind, ein Junge, kommt zur Welt. Das Paar wird mit dem Förderpreis für literarische Übersetzungen der Stadt Hamburg ausgezeichnet. Habeck hängt eine Promotion hintendran, ein Stipendium der Uni Hamburg hilft dabei. Im Jahr 2000 ist er fertig. Habeck darf sich Doktor der Philosophie nennen, seine Doktorarbeit trägt den Titel: „Die Natur der Literatur: Zur gattungstheoretischen Begründung literarischer Ästhetizität“.

Viel wichtiger ist die Literatur

Noch immer spielt Politik in seinem Leben nur am Rande eine Rolle. Viel wichtiger ist die Literatur. Und die Familie. 1999 stoßen zwei weitere Söhne hinzu: Zwillinge. Die nun gar nicht mehr kleine Familie zieht nach Svendborg auf der Insel Fünen. Paluch und Habeck haben ein Arbeitsstipendium des dortigen Brecht-Hauses bekommen und dürfen dort vier Monate leben und arbeiten. Habeck ist begeistert. Ohne finanzielle Sorgen, in einem Haus direkt am Wasser, können die beiden schreiben. Gemeinsam schreiben. Das Schriftstellerpaar Paluch-Habeck ist geboren. Bis heute haben sie eine gemeinsame Webseite.

Das erste Buch ist eine moderne Umsetzung des „Schimmelreiters“ von Theodor Storm. „Hauke Hajens Tod“ erscheint im renommierten S. Fischer Verlag. Die Rezensionen sind zwiespältig. Die „Süddeutsche Zeitung“ spricht von einem „aufgeräumten und aufräumenden Heimatroman“, es sei „kein sprachliches Kunstwerk“, eher „ein bisschen RTL II“. Die FAZ berichtet, der Roman erziele „mit den minimalen Mitteln schlichter Gemüter vergleichsweise große Effekte“.

Habeck soll die Strippen gezogen haben

Egal. Paluch und Habeck machen weiter. Das Brecht-Haus mit Garten und Seeblick hat Lust gemacht auf ein Familienheim. In Großenwiehe bei Flensburg kaufen sie sich ein Haus. Habeck, 32, Doktor der Philosophie, sitzt jetzt in einem Dorf hoch im Norden. Literaturferner, realitätsferner geht es kaum.

Habeck hält das nicht lange aus. Er will etwas bewirken. Er geht in die Politik. 2002 wird er Mitglied der Grünen. Der Kreisverband ist gerade führungslos. Habeck greift zu – und wird Vorsitzender. Schon 2004 wird er gar Landesvorsitzender. Das klingt erst einmal nach viel, ist aber recht wenig. Die Landtagsfraktion und deren Chef haben bei den Grünen im Norden schon immer eine weitaus wichtigere Rolle gespielt als der Landeschef. Zudem ist es ein Ehrenamt.

Spitzenergebnis bei der Landtagswahl

Ein Ehrenamt, das Habeck immer mehr Zeit kostet. Und immer weniger Zeit lässt, um mit dem Schreiben Geld zu verdienen. 2009 der nächste Schritt. Habeck wird Spitzenkandidat seiner Partei. Und erzielt bei der Landtagswahl ein Spitzenergebnis: 12,4 Prozent. Es reicht dennoch nur für die Opposition. Schwarz-gelb regiert, Habeck wird Fraktionsvorsitzender. Er ist nun 40. Endlich ein festes Einkommen. Seinen Amtsvorgänger, Karl-Martin Hentschel, hat die Partei schon vor der Wahl abgesägt. Bei der Listenaufstellung bekommt er keine Mehrheit und tritt zurück. Manche in der Partei sagen, dass Habeck dabei im Hintergrund die Strippen gezogen habe.

Grüne loben Einigkeit und meiden Personalfragen

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    Auch Konstantin von Notz, der junge Rechtsanwalt aus Mölln, macht damals überraschend Karriere. Er zieht im selben Jahr als Abgeordneter in den Bundestag ein. Manche sagen: Habeck und der zwei Jahre jüngere Notz haben sich damals gegenseitig geholfen. Ist es eine Seilschaft, die bis heute gehalten hat?

    Das Glück ist dem jungen Landtagsabgeordneten hold. Das Landesverfassungsgericht sorgt mit einem Urteil für vorgezogene Neuwahlen. Sie bescheren dem Land 2012 einen Regierungswechsel: SPD und Grüne liegen mit einer Stimme Mehrheit vorn. Habeck, eben noch Literat und Philosoph, wird Minister für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume.

    Bauern wissen, dass er nichts Böses will

    Die Bewährungsprobe beginnt. Ein Grüner will den zutiefst konservativen Bauern in Schleswig-Holstein erklären, wie wichtig Blühstreifen sind? Es wird eine stürmische Zeit. Friedliche und kriegerische Phasen wechseln einander ab. Habeck, eigentlich harmoniesüchtig, geht keinem Bauerntag aus dem Weg. Er wirbt, schmeichelt, lockt, beschreibt Konsequenzen. Manchmal schlägt er einen klagenden Ton an, den man von ihm auch auf Parteitagen hören kann. Der Subtext lautet: „Ich will doch nur euer Bestes.“

    Am Ende hat er es geschafft. Die meisten Bauern glauben ihm mittlerweile, dass er ihnen zumindest nichts Böses will. Sein Ministerium, in einem hässlichen Hochhaus außerhalb des Regierungsbezirks untergebracht, hat er im Griff. Von seinem Amtszimmer aus blickt man über die Förde nach Heikendorf – auf Habecks Vergangenheit.

    Aber er will nicht zurück. Er will nach vorn, er will weiter. Landwirtschaft ist für einen Landespolitiker ein undankbares Feld. Die wichtigen Entscheidungen fallen in der EU – und in der Bundeshauptstadt. Habeck zieht es nach Berlin. Er will Spitzenkandidat der Grünen für die Bundestagswahl 2017 werden. Aber es gibt ein Problem: Mit diesem Plan kommt er seinem Kumpel Konstantin von Notz in die Quere. Denn Habeck muss, um Spitzenkandidat zu werden, für den Bundestag kandidieren. Er fordert seine Partei ziemlich unverblümt auf, ihm einen sicheren Listenplatz zu geben. Doch der ist eigentlich Konsti vorbehalten – so nennt man den Möllner Rechtsanwalt bei den Grünen.

    Ein Streit entsteht, der mit einem Arrangement gekittet wird. Habeck verspricht, den Listenplatz nur dann zu beanspruchen, wenn die Grünen ihn tatsächlich zum Spitzenkandidaten wählen.

    Das tun sie dann nicht. Doch die verlorene Urwahl Anfang 2017 gibt Habecks Karriere erst richtig Schub. Denn nur 75 Stimmen fehlen dem Außenseiter zum Sieg über Cem Özdemir, den Bundesvorsitzenden. Habeck hat zwar verloren, in der Partei ist er jetzt aber bekannt wie ein bunter Hund. Dennoch: Habeck ist enttäuscht, deprimiert. In Schleswig-Holstein freuen sich die Grünen über den „Überraschungsverlierer“. „Robert, wir sind stolz auf dich“, jubelt die Finanzministerin Monika Heinold.

    Etwas Neues zeichnet sich am Horizont ab

    Habeck stürzt sich in den Landtagswahlkampf. Im Mai wird gewählt, die Grünen schneiden hervorragend ab. Es ist auch sein Verdienst. Doch es gibt einen Schönheitsfehler. Die alte Küstenkoalition aus SPD, Grünen und SSW wird abgewählt. Aber etwas Neues zeichnet sich am Horizont ab. Wird in Schleswig-Holstein die erste Jamaika-Koalition gebildet? Eine reizvolle Aufgabe für Habeck. Mit Wolfgang Kubicki (FDP) und Daniel Günther (CDU) sorgt er dafür, dass die Verhandlungen erfolgreich sind. Auf dem Parteitag der Grünen sorgt er mit manchmal klagendem Unterton dafür, dass es eine Mehrheit für dieses Koalitionsexperiment gibt.

    Habeck wird erneut Minister für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und Natur. Er bekommt sogar noch einen Aufgabenbereich dazu – die Digitalisierung. Alles gut also? Nein. Für Habeck beginnt eine schwierige Zeit. Er gibt Interview um Interview. Nach der knappen Niederlage bei der Urwahl, nach den erfolgreichen Jamaika-Gesprächen interessieren sich immer mehr überregionale Blätter für ihn. Manchmal schlägt er sich auch selbst vor. Immer wieder wird er gefragt, ob er in die Bundespolitik wechseln wolle. Habecks Antworten sind klarer als Habecks Absichten. „In Schleswig-Holstein sagt man zu so was Tühnkram und Spökenkiekerei”, sagt er im Mai. „Mein Lieblingsjob als Minister ist gerade erst verlängert worden, ich bin nicht auf Jobsuche“, sagt er im August.

    Chance für eine Jamaika-Koalition

    Im September kommt die Bundestagswahl. Sie bietet die Chance für eine Jamaika-Koalition im Bund. Wolfgang Kubicki sagt, wenn Habeck mitverhandele, könne es klappen. Habeck macht mit, es klappt dennoch nicht. Aber er ist nun auch in den großen Nachrichtensendungen präsent und macht, was er am besten kann: Menschen für sich einnehmen. Das mediale Interesse wächst, eine Art Habeck-Hype setzt ein. Im Dezember erklärt er, Bundesvorsitzender werden zu wollen. Und Habeck schreibt seine eigene Geschichte fort. Seinem 2016 erschienenen Bekenntnis-Buch „Wer wagt, beginnt“ fügt er ein aktuelles Kapitel hinzu. Darin berichtet er unter anderem von einer Begegnung mit dem populären kanadischen Premier Justin Trudeau. Im „Spiegel“ wird Habeck nun prompt als „der grüne Trudeau“ bezeichnet.

    Dessen Schicksal entscheidet sich heute. Denn der „grüne Trudeau“ stellt Forderungen. Er will nicht nur Bundesvorsitzender werden, sondern auch noch ein paar Monate Minister in Kiel bleiben. Abends will der Parteitag darüber abstimmen, ob die Satzung entsprechend geändert wird. Wenn es keine Mehrheit gibt, will Habeck am Sonnabend nicht kandidieren.

    Vom Außenseiter zum Insider

    Derzeit sieht es so aus, als ob er seinen Willen bekommen würde. Innerhalb eines Jahres ist er vom Außenseiter zum Insider geworden. Ohne ihn geht nicht mehr viel in der Partei. Gerüchte besagen, dass er seinen Kumpel Konsti nach ein paar Monaten auf den dann abgelegten Posten des Landwirtschaftsministers hieven will. „Habeck lehnt sich auf“? Der Titel seiner Internetvideos klingt plötzlich wie pures Marketing. Der Rebell müsste sich jetzt schon gegen sich selbst auflehnen.