Lüneburg/Hamburg. Jahrzehntelang sucht der Hamburger Kriminalist Wolfgang Sielaff auf eigene Faust nach dem Mörder seiner Schwester.
Nahe der Autobahnauffahrt Maschen wurde am 6. Juli 1967 in einem Waldstück die Leiche von Hinnerina Feldt (37) entdeckt. Sie lebte zusammen mit ihrem Mann, der in Hamburg-Lohbrügge arbeitete, in einem in der Nähe abgestellten Wohnwagen und hatte sich wohl in einer Sandkuhle sonnen wollen. Der Täter hatte ihr mit einem Stein den Schädel zertrümmert. Die Lüneburger Polizei ging davon aus, dass sich die 37-Jährige gewehrt hatte, als der Täter ihr „Gewalt antun“ wollte. Damals wurde mit dieser Formulierung ein sexueller Missbrauch verbrämt. Der Fall wurde nie aufgeklärt.
Ilse Gerkens (38) wurde am Donnerstag vor Ostern 1968 in Lüneburg getötet. Gerkens, Mutter zweier Kinder (11 und 15 Jahre), Frau eines Malermeisters, hatte sich morgens mit dem Fahrrad von ihrem Wohnort Deutsch Evern aus auf den Weg nach Lüneburg gemacht, um dort Ostereinkäufe zu erledigen. Auf dem Rückweg muss sie ihrem Mörder begegnet sein. Gegen 10.20 Uhr wurde sie unweit des Forsthauses von Spaziergängern gefunden. Vier Schüsse aus einem Kleinkalibergewehr hatten sie getroffen. Beim Transport ins Krankenhaus starb sie. Der Fall wurde nie aufgeklärt. Die Mordkommission Lüneburg setzte 2000 Mark Belohnung „für sachdienliche Hinweise“ aus. Sie mussten nie ausbezahlt werden.
Wichmann hatte sich 1993 erhängt
Heute, rund 50 Jahre später, dürften diese und eine unbekannte Zahl weiterer ungeklärter Mord- und Vermisstenfälle in den Fokus einer Ermittlungsgruppe der Polizei Lüneburg geraten. Zum Jahresanfang ist diese Gruppe von vier auf sechs Beamte aufgestockt worden. Sie heißt „Göhrde“, weil sie eigentlich die im Jahr 1989 verübten Göhrde-Morde aufklären soll. Momentan ist es allerdings eher eine Ermittlungsgruppe, die sich intensiv mit dem Lebens eines seit 25 Jahren toten Adendorfers befasst.
„Wir versuchen, ein Bewegungsbild von Kurt-Werner Wichmann zu erstellen“, sagt Mathias Fossenberger, Sprecher der Polizeidirektion Lüneburg. Kurt-Werner Wichmann hatte sich 1993 erhängt. Er könnte, so der Verdacht, ein Serienfrauenmörder sein – ein Mörder, den die Lüneburger Polizei sehr lange übersehen hat. Ein Mörder, den eine DNA-Spur seit ein paar Monaten auch zum Göhrde-Mörder macht. Ein Mörder, dessen Vorgehensweise den Verdacht nahelegt, dass er auch Ilse Gerkens und Hinnerina Feldt getötet haben könnte. Ein Mörder, der schon 1989 hätte gefasst werden können.
Im Leben von Meier geht es gerade bergauf
Die Enttarnung dieses Mannes ist eine der unglaublichsten Kriminalgeschichten der Nachkriegszeit. Sie ist verbunden mit Wolfgang Sielaff, dem ehemaligen Chef des Landeskriminalamts (LKA) Hamburg. Fast 20 Jahre lang – mit nie versiegender Hartnäckigkeit, gegen immer neue Widerstände, mit immer neuen Ansätzen – versucht er, den rätselhaften Fall seiner kleinen Schwester aufzuklären. Birgit Meier verschwindet im August 1989 aus ihrem Haus in Brietlingen-Moorburg bei Lüneburg. Spurlos. 2017 findet der Bruder ihre Leiche. Birgit Meier wurde von Wichmann entführt, von Wichmann getötet. Wolfgang Sielaff war das damals schnell klar. Doch die Lüneburger Polizei ermittelt in eine andere Richtung. Sie verdächtigt über Jahrzehnte hinweg den Ehemann von Birgit Meier.
Birgit Meier ist 41, als sie verschwindet. Sie hat nur ein halbes Leben gelebt. Die zweite Hälfte, die Zukunft: plötzlich weg. Zurück bleibt eine ratlose, verzweifelte Familie: die Mutter, der Mann, die Tochter, die Schwägerin, die Nichten, Freunde. Zurück bleibt auch der Bruder. Sechs Jahre älter als sie. Wolfgang Sielaff, Jahrgang ’42, ist Polizist. Genauer gesagt: Kaum einer ist mehr Polizist als er. Gleich nach dem Realschulabschluss geht er zur Schutzpolizei, wechselt zur Kripo, macht Karriere. Kämpft gegen die Organisierte Kriminalität, also gegen die ganz schweren Jungs, Zuhälter, Rockergangs.
Alles beginnt mit einem Anruf
Wird Chef des Landeskriminalamts. Seit 2002 ist er im Ruhestand. 75 Jahre alt ist er jetzt, man sieht es ihm nicht an. Schlank, groß gewachsen, volles Haar. Ja, das Alter hat ihn gebeugt. Aber die Irrungen und Wirrungen im Fall Birgit Meier kann er mühelos aus der Erinnerung referieren. Das halbe Leben, das ihr Wichmann genommen hat, wird ihm zur Lebensaufgabe. Vor einem Jahr, 28 Jahre nach ihrem Tod, hat er seine kleine Schwester gefunden. Er, nicht die Lüneburger Polizei. Einbetoniert, in einer Garage auf dem Grundstück von Kurt-Werner Wichmann.
Alles beginnt am 15. August 1989 mit einem Anruf bei Wolfgang Sielaff. Birgit Meiers Tochter ist am Apparat. „Mama ist weg“, sagt sie. Eine sinnvolle Erklärung für das Verschwinden gibt es nicht. Meier will eigentlich an jenem Tag nach Bad Segeberg fahren, um bei Möbel Kraft eine neue Küche zu kaufen. In ihrem Leben geht es gerade wieder bergauf. Ihre Ehe war zerbrochen, schon vor Jahren. Sie scheint sich endlich damit abgefunden zu haben, mietet ein Reihenhaus in Adendorf. Aus dem ehelichen Haus in Brietlingen will sie ausziehen. Die Scheidung wird sie zu einer vermögenden Frau machen. In den Tagen vor ihrem Verschwinden sei sie „euphorisch“ gewesen, berichten Angehörige.
Sielaff hält ein Verbrechen für wahrscheinlich
Sielaff hält deshalb ein Verbrechen für wahrscheinlich und vereinbart mit dem Lüneburger Kripoleiter: „Bitte behandelt das Haus in Brietlingen wie einen Tatort.“ Das geschieht. Spuren werden gesichert, eine große Suche läuft an, ein Hubschrauber erkundet die waldreiche Umgebung. Die Lüneburger haben in jenen Tagen viel zu tun. Denn in der Göhrde, einem großen Waldgebiet, hat es im Mai und im Juli zwei Doppelmorde gegeben.
Mit dem Fall Meier beschäftigen sich deshalb erst einmal Polizisten, die mit Kapitalverbrechen nicht so furchtbar viel Erfahrung haben. Sie glauben, dass es eigentlich nur zwei Möglichkeiten gebe: Selbstmord oder ein Verbrechen. Und wenn es ein Verbrechen sei, dann komme als Täter doch wohl nur der Ehemann infrage, heißt es. Der erspare sich ja nun die teure Scheidung. Aus Sicht von Sielaff ist das kein Argument. Dem Ehemann gehört eine wirtschaftlich erfolgreiche Druckerei in Lüneburg, Geld ist genug vorhanden.
Zeugin berichtet von einem Telefongespräch
Dann kommt Bewegung in die Sache. Zwei Monate nach dem Verschwinden lenkt ein Hinweis, den der Ehemann an die Polizei weitergibt, den Verdacht auf Wichmann. Eine Zeugin berichtet von einem Telefongespräch mit Birgit Meier, das sie am Abend vor ihrem Verschwinden geführt hat. Meier erzählt von einer seltsamen Begebenheit. Der Gärtner der Nachbarin habe bei ihr geklingelt und sie nach der neuen Adresse der unlängst umgezogenen Frau gefragt. Aber Meier weiß, dass dem Gärtner die Adresse bekannt sein muss – und wundert sich. „Ich habe wohl einen neuen Hausfreund“, scherzt sie am Telefon. Wer dieser Gärtner ist, lässt sich schnell feststellen: Kurt-Werner Wichmann, Jahrgang 1949. Der Mann hat eine Vorgeschichte. Sexualdelikte ziehen sich durch sein Leben. Schlimmster Vorfall: 1970 fährt er mit einer Anhalterin in den Wald, vergewaltigt sie dort und würgt sie, bis er sie für tot hält. Nur mit Glück entkommt sie.
Bei der Polizei hätten jetzt also alle Warnlampen leuchten müssen. Aber lesen die Lüneburger Polizisten überhaupt seine Kriminalakte? Sie lassen es jedenfalls ruhig angehen – und befragen Wichmann zunächst telefonisch. Nein, er habe nicht bei Frau Meier geklingelt. Am Abend des Verschwindens sei er mit seinem Hund spazieren gegangen, seine Frau könne das bezeugen. Dann erscheint er auf dem Polizeirevier, damit seine Aussage zu Protokoll genommen werden kann. Es ist ein warmer Tag. Wichmann trägt weiße Handschuhe. Wegen einer Hautallergie, sagt er. Die Polizisten werden misstrauisch und erkundigen sich beim Hausarzt. Allergie? Nein, sein Patient habe einen Pilzbefall.
Wichmann verstrickt sich in Widersprüche
Wichmann ist einschlägig vorbestraft, Er lügt, er verstrickt sich in Widersprüche. Sielaff: „Das hätte allemal ausgereicht, um einen Tatverdacht gegen ihn zu begründen und sein Haus zu durchsuchen.“ Aber nichts geschieht. Die Chance, bei einer Hausdurchsuchung die Leiche von Birgit Meier zu finden, Kleinkaliberwaffen zu finden, die Jahre später dort entdeckt werden, und damit die Verbindung zu den Göhrde-Morden zu ziehen, wo solche Waffen eingesetzt wurden, verstreicht. Ein Lüneburger Ermittler sagt: „Herr Sielaff, bleiben Sie mal ruhig. Warten Sie, bis die Maisfelder abgeerntet sind, dann finden wir Ihre Schwester schon.“
Sielaff lässt nicht locker. Er bittet Eduard Zimmermann, den Chef der TV-Fahndungssendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“, den Fall auszustrahlen. Der will mitspielen, kann aber nicht. „Wir machen bei ,XY‘ keine Vermisstenfälle“, sagt er. Aber das ist Birgit Meier offiziell immer noch: eine vermisste Person. Sielaff fordert den zuständigen Staatsanwalt auf, nun endlich ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Im Dezember 1989 geschieht das – eher widerwillig. Die TV-Sendung läuft im Februar 1990. 105 Hinweise gehen ein. „Es war alles unergiebig“, sagt Sielaff. Wieder nichts.
Sielaff baut ein Team auf
Es folgen Pleiten, Pech und Pannen. 1993 wird Wichmanns Anwesen in Adendorf durchsucht. Man findet Kleinkaliberwaffen, Fesselungsmaterialien und ein vergrabenes Auto. Wichmann flüchtet, wird gefasst und erhängt sich im Gefängnis, ohne vernommen zu werden. Die Ermittlungen gegen ihn werden eingestellt. Er ist ja tot.
2002 geht Sielaff in den Ruhestand. Er will nun endlich wissen, was mit seiner einzigen Schwester geschehen ist. „Die Familie braucht Gewissheit, um mit dem Fall abschließen zu können“, sagt er. Er baut nach und nach ein Team auf, seine Helfer haben Rang und Namen. Es ist ein A-Team: Reinhard Chedor, Sielaffs Nachfolger im Amt des LKA-Chefs. Klaus Püschel, Chef des Hamburger Instituts für Rechtsmedizin. Gerhard Strate, Rechtsanwalt.
Anonymer Anruf bringt Bewegung in Sache
2007 hat Sielaff genug Material zusammen. Er versucht, die Lüneburger dazu zu bewegen, endlich gegen Wichmann zu ermitteln. Die Stimmung ist nicht gut zwischen den Lüneburger Polizisten und den Kriminalisten aus der Großstadt. Ein Lüneburger Beamter sichtet Akten, mehr passiert nicht. Es ist eine Alibi-Ermittlung.
2017 bringt ein anonymer Anruf Bewegung in die Sache: In einer Garage auf Wichmanns Grundstück seien Waffen versteckt. Waffen findet man nicht, aber eine Kfz-Grube, die seltsam flach ist. Die Lüneburger erscheinen und kommen zu dem Ergebnis, dass dort nichts sein könne. Sielaff glaubt das nicht. Sein Team ist zu der Erkenntnis gelangt, dass seine Schwester im Haus oder auf dem Areal zu finden sein muss. Im September geht die Suche los. Schnell stößt man auf Knochen. Sielaff ruft die Polizei. Die Leiche steckt in einem 1,60 Meter tiefen Loch. Die Spezialisten brauchen Stunden, um Birgit Meier aus ihrem Gefängnis zu befreien. Vor der Garage werden die Funde Knochen für Knochen auf ein grünes Tuch gelegt. Am Abend um 21 Uhr ist das Skelett komplett. 28 Jahre nach Birgit Meiers spurlosem Verschwinden ist das Puzzle gelöst.