Kiel. Seit 1991 wird eine Ost-West-Verbindung geplant. Die Sache ist so verkorkst, dass es nicht einmal einen Zeitplan gibt.
Wer nach Belegen für die Vergeblichkeit menschlichen Tuns sucht, wem nach waghalsigen politischen Kurskorrekturen verlangt, wer sich von immer neuen Schwierigkeiten quälen lassen will, der findet all dies im Archiv des schleswig-holsteinischen Landtags. Suchbegriff: Autobahn 20. Rund 40 Kilometer gibt es schon, etwa 80 Kilometer fehlen noch.
Streit, fehlender Wille und umfangreiche Klagemöglichkeiten machen aus diesem doch eigentlich recht kurzen Stück Straße ein seit Jahrzehnten unfertiges Monstrum, das die Autofahrer zur Verzweiflung und die Politiker zu Tricksereien treibt. Die schleswig-holsteinische Landesregierung hat jetzt die Konsequenzen gezogen und das Problem einfach ausgelagert. Seit dem 19. Dezember 2017 ist die Deges (Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH) für das Monstrum zuständig. Sie ist ein staatseigenes Spezialunternehmen für Straßenbau. Man könnte auch sagen: Deges – das ist der letzte A-20-Versuch.
Prestige-Bauvorhaben der Deutschen Einheit
Die ersten Versuche liegen Jahrzehnte zurück. Schon seit 1991 wird in Schleswig-Holstein an der Fortführung der Ostseeautobahn gearbeitet, bis 1996 wurden bereits 12,6 Millionen Deutsche Mark für die Planungen ausgegeben. Immerhin ging es hier um ein Prestige-Bauvorhaben der Deutschen Einheit. Eine komplett neue Straße sollte entstehen – der längste zusammenhängende Autobahnneubau seit 1945. Die 541 Kilometer lange Ost-West-Verbindung sollte von der Uckermark nah der deutsch-polnischen Grenze bis nach Westerstede im nordwestlichen Niedersachsen führen.
Recht zügig ging es los – in Mecklenburg-Vorpommern. Von 1992 bis 2005 wurden die rund 320 Kilometer von der Uckermark bis zur A 1 bei Lübeck fertig gebaut. In 13 Jahren! Doch kaum hatte die A 20 schleswig-holsteinischen Boden erreicht, setzte eine seltsame Verlangsamung ein. Zwischen 2005 und 2009 wurden noch weitere knapp 22 Kilometer fertig – bis kurz vor Bad Segeberg. Das war es dann. Schluss, aus, vorbei. Seitdem ist kein weiterer Bauabschnitt über das Planungsstadium herausgekommen.
Jeder Verkehrsminister versprach Besserung
Das lag unter anderem an Umweltschutzverbänden und an Dörfern, die mit Klagen gegen die Planungen vorgingen. Vor Gericht bekamen sie mal recht, mal auch nicht. Zu Verzögerungen führte das so oder so. Wiesenrallen, Zwergschwäne und Fledermäuse nutzten die Jahre des Stillstands, um sich am Rand der Trasse prächtig zu entwickeln. Neuerliche Untersuchungen wurden nötig. Neuerliche Verzögerungen folgten.
Allerdings waren wohl auch die Vorarbeiten der Behörden, in diesem Fall des Landesamts für Straßenbau, nicht sonderlich durchdacht. Das gerichtsfeste Planen ist jedenfalls nicht in Schleswig-Holstein erfunden worden. Kaum ein Gerichtsverfahren endete nicht zumindest mit dem Hinweis, dass die Pläne in diesem und jenem Punkt nachgebessert werden müssen. Was zu weiteren Zeitverzögerungen führte. Was dazu führte, dass einzelne Unterlagen für die Planfeststellungsverfahren veraltet waren und neu erarbeitet werden mussten. Was zu erneuten Zeitverzögerungen führte.
Zu viele Klagemöglichkeiten
Die Politiker kochten derweil ihr jeweils eigenes A-20-Süppchen. Weil alle wussten, dass das Ding total verfahren war, versprach jeder Verkehrsminister, jeder Ministerpräsident zu Beginn seiner Amtszeit fröhlich, dass nun alles besser werden würde, um zum Ende der Amtszeit darüber zu klagen, dass die Autobahngegner viel zu viele Klagemöglichkeiten hätten. Die SPD, die in den Jahren von 1996 bis 2005 und 2012 bis 2017 den Verkehrsminister stellte, machte es nicht anders als die CDU (2005 bis 2012).
Und Bernd Buchholz (FDP), Verkehrsminister seit dem Regierungswechsel im Mai 2017, wird dieses Verhalten, das das Zeug zu einer schleswig-holsteinischen Landestradition hat, absehbar fortsetzen. Besonders eklatant war in diesem Zusammenhang das politische Schauspiel, das Daniel Günther vor und nach der Landtagswahl ablieferte. Der CDU-Mann, erst ziemlich kurz vor dem Wahltermin im vergangenen Mai zum Spitzenkandidaten seiner Partei gekürt, suchte nach Themen, um die damals in Umfragen weit zurückliegenden Christdemokraten nach vorn zu bringen. Also versprach er im Wahlkampf tatsächlich, die A 20 in den kommenden fünf Jahren fertig zu bauen – wenn er zum Ministerpräsidenten gewählt werde.
56 Umzugskartons mit Unterlagen
Er wurde gewählt. Mit der Fertigstellung der Autobahn wird es dennoch nichts. Die Planungen seien ja total festgefahren, sagte Günther nach der Wahl, das habe er sich so nicht vorstellen können. Im Kieler Landeshaus rieb man sich verwundert die Augen. Günther war seit 2009 Landtagsabgeordneter, hatte er denn bei allen A-20-Debatten im Landtag weggehört? Vielleicht hatte er ja auch nur ein Versprechen gegeben, von dem er wusste, dass er es nicht werde einhalten können.
Aber es kam noch schlimmer. Sein Verkehrsminister Bernd Buchholz (FDP) kündigte nach der Wahl an, in Sachen A 20 nun zumindest die Arbeiten beschleunigen zu wollen und bis Ende 2017 einen neuen Zeitplan für die Fertigstellung vorzulegen. Doch stattdessen wurde die Problem-Autobahn verschoben – zur Deges. Bei der Vertragsunterzeichnung im Dezember sagte Buchholz, die Deges sei auf „Vorhaben solcher Dimensionen“ spezialisiert und genieße eine „ausgezeichnete Reputation“.
Umweltplaner benötigt
Das mag sein. Nur: Beschleunigt wird durch den Wechsel erst einmal gar nichts. Das Gegenteil geschieht. Bernd Rothe, Deges-Bereichsleiter für Hamburg, Schleswig-Holstein und Bremen, muss sich nun zunächst mühsam in die bereits geschlossenen Verträge mit Gutachtern und Ingenieurbüros einarbeiten. Die Deges muss dort auch rein rechtlich als Vertragpartner einscheren: „Das wird mindestens ein halbes Jahr dauern“, sagte Rothe. Insgesamt 56 Umzugskartons mit Unterlagen müssen gesichtet werden. Unklar sei auch noch, wer die Rechtsstreitigkeiten weiterführe – das Ministerium oder die Deges.
Zudem muss das Unternehmen, das eine Niederlassung in Hamburg hat, nun Personal einstellen. „Wir brauchen Umweltplaner und Straßenplaner“, sagte Rothe. 50 Mitarbeiter hat er schon, „zehn bis 15 zusätzliche“ wären schön. Bis die Deges also tatsächlich in der Lage sein wird, die Planung der Problem-Autobahn voranzutreiben, dürften Monate, wenn nicht ein ganzes Jahr vergehen. Und dann? Rothe wagt keine Prognose – schon allein wegen der Rechtslage. „Baurechtsverfahren sind hier so kompliziert wie in keinem anderen westeuropäischen Land“, sagte er.
Der letzte A-20-Versuch
Die Deges ist der letzte A-20-Versuch. Am Ende wird sie nach jetzt schon 27 Jahren A-20-Planung in Schleswig-Holstein die Frage beantworten müssen, ob Deutschland überhaupt noch in der Lage ist, neue Autobahnen zu bauen. Und wenn ja: Ob es nicht im Grunde sinnlos ist, eine Schnellstraße im Schneckentempo zu bauen.