Mölln. Vor 25 Jahren töteten Neonazis drei Türkinnen bei einem Brandanschlag. Ein Aufschrei ging damals um die Welt.
Hoyerswerda. Rostock-Lichtenhagen. Und jetzt – Mölln. Drei Tote. Zwei türkische Mädchen (zehn und 14 Jahre alt), eine Frau (51), die Großmutter der Zehnjährigen. Verbrannt oder am Rauch erstickt. Die Täter kamen nachts, als alle schliefen. Sie gossen Benzin in den Hausflur und warfen Brandsätze. Dann riefen sie die Polizei an und brüllten: „In der Mühlenstraße brennt es. Heil Hitler!“
Drei Tote aus der türkischen Großfamilie Arslan, die seit vielen Jahren in Deutschland lebt und arbeitet, deren Kinder hier geboren sind und die die Türkei nur noch vom Urlaub kennen. In jener Nacht zum 23. November 1992 wird Mölln, die letzte Heimat des Schelms Till Eulenspiegel, ein anderer Ort. Die lebens- und liebenswerte Kleinstadt im Lauenburgischen liegt plötzlich mitten in „Dunkeldeutschland“, auch sie hat die Fratze des Fremdenhasses gezeigt, für den schon Hoyerswerda und Lichtenhagen zum Fanal geworden sind. Und, schlimmer noch, nun haben brandwütige Neonazis zum ersten Mal Menschen fremder Herkunft nicht nur verletzt, sondern umgebracht!
Es ist die Zeit, als Deutschland nicht nur seine Wiedervereinigung zu bewältigen hat, sondern auch zum Zufluchtsort Hunderttausender wird, die den Jugoslawienkriegen oder dem Elend des Postkommunismus entkommen wollen. Fast 450.000 Asylbewerber werden allein 1992 aufgenommen, neuer Rekord. Das trifft Politik und Bürger ziemlich unvorbereitet. Rechte Parteien wie die Republikaner gewinnen enorm an Zustimmung, rechte Extremisten zündeln überall in der Republik.
Das Entsetzen nach dem Möllner Inferno ist gewaltig. Nicht nur dort, auch in Hamburg und anderswo vereinen sich Zehntausende zu Lichterketten und Schweigemärschen. Ministerpräsident Björn Engholm (SPD) eilt an den Tatort und fordert, was Politiker fast immer in solchen Fällen fordern: Die Täter müssten „die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen“. Nachbarn legen Blumen an der Brandruine nieder und helfen, wo sie können. Ein Junge, der mit der zehnjährigen Yeliz zur Schule ging, trauert: „Mein Vater hat mir heute Morgen gesagt, dass sie nicht mehr wiederkommen wird.“
Erst gestehen die Täter
Ausländische Zeitungen wie der „Boston Globe“ schlagen Alarm: „Deutsche Nazis ermorden wieder ,Untermenschen‘“. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) warnt angesichts der zunehmenden Anschläge gegen Ausländer vor einer „tiefgehenden Vertrauenskrise gegenüber dem deutschen Rechtsstaat“.
Die bringen vor allem viele junge Türken zum Ausdruck, indem sie sich mit Baseballschlägern und Schreckschusswaffen bewaffnen und Jagd auf Skinheads machen. Am Hamburger Flughafen, von wo aus nach einer Trauerfeier die drei Brandopfer zur Beerdigung in die Türkei geflogen werden, kommt es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen türkischen Demonstranten und der Polizei.
Für Empörung sorgt auch, dass die Ermittler in den ersten Tagen unter anderem im Umfeld des Vaters der getöteten Yeliz suchen. Er ist vier Jahre zuvor wegen Förderung der Prostitution, räuberischer Erpressung und Körperverletzung zu einem Jahr Haft verurteilt worden, sein Berufungsverfahren läuft.
Fremdenhass als Motiv bestätigt
Aber noch in derselben Woche bestätigt sich das Motiv Fremdenhass. Erstmals zieht in einem solchen Fall der Generalbundesanwalt das Verfahren an sich: Die Tat sei auch als „Anschlag auf die innere Sicherheit“ Deutschlands zu werten. Zwei Tatverdächtige werden festgenommen – ein 25-Jähriger und sein 19 Jahre alter Freund. Hilfsarbeiter der eine, Lehrling in einem Supermarkt der andere, liefen sie einst als Skinheads herum und machen auch jetzt aus ihrer rechten Gesinnung keinen Hehl. Sie gestehen nicht nur den tödlichen Brandanschlag in der Mühlenstraße. Sie bekennen auch, eine halbe Stunde zuvor ein von sechs türkischen Familien bewohntes Haus ein paar Straßen weiter angezündet zu haben. Dort gab es neun Verletzte. Und auch den Brand meldeten die Täter der Polizei mit „Heil Hitler“.
Ein schneller – und auch politisch immens wichtiger – Erfolg der Fahnder. Denken viele. Doch dann beginnt der Prozess mit einem Knall: Die beiden Angeklagten widerrufen ihre Geständnisse! Obwohl sie sie sowohl vor der Polizei als auch vor einem Bundesrichter abgelegt haben. Der Verteidiger von Lars C., der Münchner Staranwalt Rolf Bossi, sagt, sein Mandant sei bei den Verhören übermüdet und nicht zurechnungsfähig gewesen. Er wirft der Polizei sogar „Gehirnwäsche“ vor.
Neunjährige wird zur Hauptbelastungszeugin
Aber die Staatsanwaltschaft muss sich nicht nur auf Indizien stützen, um den Angeklagten das Verbrechen nachzuweisen. Es gibt auch eine Zeugin: Ein neun Jahre altes Mädchen aus einem Nachbarhaus hat in jener Nacht die Tat beobachtet, als es auf die Toilette musste. Die Zeugin konnte zwar die Gesichter der Täter nicht erkennen, dafür aber wichtige Details, die auf die beiden Verdächtigen deuten. Eine Kinderpsychiaterin bestätigt, dass die Aussagen der Zeugin im Kern glaubhaft sind.
Fast auf den Tag zwölf Monate nach dem Dreifachmord werden die beiden Neonazis verurteilt. Der 25-Jährige bekommt lebenslänglich, der 19-Jährige, obwohl die treibende Kraft, zehn Jahre – die höchstmögliche Jugendstrafe. Ohne Regung nehmen sie den Schuldspruch zur Kenntnis, so wie sie zumeist auch die 47 Prozesstage über sich ergehen ließen.
Medien werten Urteil als wegweisend
Internationale Medien werten das Urteil als wegweisend. Die deutsche Gesellschaft habe einen Prozess gegen sich selbst geführt, „fast ein kleines Nürnberg gegen die braune Herausforderung“, kommentiert Italiens „La Repubblica“. Und „El País“ aus Spanien sieht in dem Schuldspruch einen „entscheidenden Schritt im Kampf gegen die Gewalttaten der extremen Rechten in Deutschland“.
Hoyerswerda. Rostock-Lichtenhagen. Mölln. Und dann – Lübeck. 25 Monate nach dem Möllner Urteil zünden Unbekannte ein Haus in der Hansestadt an. Darin sind Asylbewerber aus Zaire, Angola, Togo und dem Libanon untergebracht. Drei Erwachsene und sieben Kinder kommen ums Leben. Die Täter sind bis heute nicht ermittelt.