Husum. Heute vor 200 Jahren wurde Theodor Storm geboren. Der Nordfriese war weit mehr als ein Heimatschriftsteller.
Es war Betrug. Eine Täuschung. Und doch wuchs aus ihr eine wunderbare kreative Kraft, ohne die es eine der berühmtesten Novellen der deutschen Literatur nicht gegeben hätte: Theodor Storms „Der Schimmelreiter“. Es ist Winter 1886/87, als Storm an einer schweren Krankheit leidet und schreibt, er habe „das Vertrauen zum Leben verloren“. Wenig später wird bei dem 69-Jährigen Magenkrebs diagnostiziert.
Sein Bruder Aemil, selber Arzt, untersucht ihn nun zum Schein und revidiert die Diagnose. Die barmherzige Lüge gibt dem Dichter neuen Antrieb und lässt ihn sein Werk vom Deichgrafen Hauke Haien, dem Schimmelreiter, vollenden, das als Storms bedeutendstes gilt. Es ist die Krönung eines Schaffens, dem später kein Geringerer als Thomas Mann „absolute Weltwürde der Dichtung“ bescheinigt und den großen Schriftsteller über Storm sagen lässt: „Er ist ein Meister, er bleibt.“
Wer an Storm denkt, denkt auch an Husum, jenen Ort, in dem der Lyriker und Erzähler heute vor 200 Jahren, am 14. September 1817, geboren wurde und dem er mit seinem Gedicht „Die Stadt“ als „die graue Stadt am Meer“ ein Denkmal gesetzt hat. Hier wächst er als Sohn eines Juristen auf, verfasst er erste Verse, erzählt er sich mit Freunden Märchen, Sagen, Gespenstergeschichten. Als er 18 ist, macht ihn ein Freund, der spätere Dichter und Philosoph Ferdinand Röse, mit den Werken Heines, Goethes und Eichendorffs bekannt. Storm ist von dieser Literatur so verzaubert, „als seien die Tore einer neuen Welt vor mir aufgerissen worden“.
Trotzdem studiert er Jura. „Es ist das Studium, das man ohne besondere Neigung studieren kann“, sagt er lakonisch. Während seiner Zeit in Kiel lernt er den späteren Literaturnobelpreisträger Theodor Mommsen und dessen Bruder Tycho kennen. Gemeinsam geben sie das „Liederbuch dreier Freunde“ heraus. Zugleich treibt Storm seine berufliche Karriere ehrgeizig voran, gründet 1843 eine eigene Anwaltskanzlei.
Storms schulmeisterliche Art
Und später stellt er fest: „Mein richterlicher und poetischer Beruf sind meistens in gutem Einvernehmen gewesen, ja, ich habe sogar oft als eine Erfrischung empfunden, aus der Welt der Fantasie in die praktische des reinen Verstandes einzukehren und umgekehrt.“ Auch musikalisch ist der Vielbegabte tätig: Er gründet einen gemischten Gesangsverein, übernimmt dort auch Solopartien als Tenor.
An Storms Seite ist mittlerweile Constanze, eine Cousine, die er 1946 geheiratet hat. Sieben Kinder gehen aus dieser Verbindung hervor, die jedoch insbesondere in den ersten Jahren Probleme zu überwinden hat. Da ist Storms schulmeisterliche Art, mit der er ihre Briefe korrigiert, und sein Anspruch, welche Bücher sie lesen solle. Doch vor allem droht Gefahr durch eine 17-Jährige, die zarte Blondine Dorothea Jensen. Ihr schreibt er glühende Liebesgedichte.
Ehe zu dritt war die Überlegung
Es wird gar überlegt, eine Ehe zu dritt zu führen. Schließlich verlässt Dorothea Jensen Husum. Es blieb aber der Verdacht, dass trotz räumlicher Trennung die Verbindung weiter bestand. Dennoch wacht Storm eifersüchtig über das Leben seiner Frau. Als sie einmal für eine Untersuchung zum Arzt fährt, muss sie sich hinterher bittere Vorwürfe anhören, weil sie gegen Storms Willen ihre neuen Strumpfbänder trug – und nicht die alten.
Gleichwohl gedeiht und reift die Beziehung. Die Familie folgt Storm erst in die thüringische Heiligenstadt, wo der Jurist einige Jahre als Richter arbeitet, und später zurück nach Husum, wo der mittlerweile 47-Jährige zunächst Landvogt und später erneut Richter wird. „Constanze ist nicht nur die Mutter meiner Kinder, sondern auch meine Muse und Geliebte im eigensten Sinne“, betont Storm später. Am 20. Mai 1865 stirbt sie nach der Geburt ihres siebten Kindes am Kindbettfieber. Ein Jahr später heiratet Storm seine frühere Geliebte Dorothea Jensen. Mit ihr bekommt er sein achtes Kind.
Literarischer Durchbruch
Zu dieser Zeit ist Storm längst der literarische Durchbruch gelungen, unter anderem mit der Novelle „Immensee“ aus dem Jahr 1849, die bis zu seinem Tod 1888 in insgesamt 30 Auflagen gedruckt wurde, und dem Märchen „Der kleine Häwelmann“. Es entstehen zahllose Gedichte, etwa „Knecht Ruprecht“ und „Meeresstrand“ sowie beispielsweise die Novellen „Pole Poppenspäler“, „Viola tricolor“, „Draußen im Heidedorf“, „Die Söhne des Senators“ und „Hans und Heinz Kirch“.
Insgesamt knapp 60 Novellen verfasst Storm, schreibt aber, anders als Theodor Fontane, Eduard Mörike oder Paul Heyse, mit denen ihn lange Freundschaft verbindet, keinen Roman. Die Novelle sei „die Schwester des Dramas“, findet Storm; sie könne in der Prosa am besten „das wirklich Poetische darstellen“.
Vorzeitige Pensionierung
Im Jahr 1880 erwirkt der Husumer seine vorzeitige Pensionierung und lässt sich im nahen Hademarschen seinen ersehnten Alterssitz bauen. Hier widmet er sich vollständig dem Schreiben und beginnt schließlich das Werk, das sein letztes werden soll, den „Schimmelreiter“. Bis heute gehört diese Novelle in vielen Schulen zur Pflichtlektüre.
1887 erfährt Storm große Ehrungen zu seinem 70. Geburtstag. Verehrerinnen schenken ihm einen neuen Schreibtisch, verziert unter anderem mit vier Eulen, die von dem jungen Emil Nolde geschnitzt wurden. Er bezeichnet das prächtige Möbel als „wahrhaft fürstlich“ und sagt altersweise über seinen Geburtstag, er „wäre ganz schön, wäre es nur nicht der siebenzigste gewesen“. Es ist sein letzter Ehrentag. Knapp zehn Monate später, am 4. Juli 1888, stirbt Storm. Drei Tage darauf wird er in der Familiengruft beigesetzt, unter großer Anteilnahme der Stadt, aber ohne Priester. So hat er es sich gewünscht.
Begnadeter Erzähler
Emsiger Briefeschreiber, bitterer Spötter, begnadeter Erzähler, harscher Kritiker: Storm war vieles, nicht zuletzt mit höchstem Anspruch auch an sich selbst. Sogar mit seinem letzten, seinem Meisterwerk, dem „Schimmelreiter“ über den Deichgrafen Hauke Haien, haderte er. Als er die Novelle vollendet hatte, las er sie seiner Familie vor und fragte anschließend in die Stille hinein, ob sie „nicht langweilig“ sei?
Die Antwort geben ihm nicht zuletzt zahllose Verehrer seines Werkes, das auch weit über Deutschland hinaus geschätzt wird. So gibt es unter anderem sogar in Japan eine Theodor-Storm-Gesellschaft, seit nunmehr 34 Jahren. Eine solche internationale Wirkung seines Œuvres hätte ihm gefallen, wurde ihm doch einmal von Theodor Fontane vorgeworfen, er betreibe „Husumerei“. Für Storm jedoch war diese Konzentration auf die Heimat die wahre Inspiration: „Ich brauche äußerliche Enge, um innerlich ins Weite zu ziehen.“